Ich erinnere mich daran, es
heißt, Barong sei eine Abkürzung von beruang, Bär. Banasapati Raja,
einer der vier spirituellen Geschwister der Menschen, soll das Vorbild für den
Barong gewesen sein. Trotzdem wird in den Informationen für Touristen immer
wieder von dem löwenähnlichen Charakter des Barongs gesprochen. Wie dem auch
sei: Der Barong ist eine populäre folkloristische Gestalt aus der balinesischen
Kultur. Bei Einheimischen wie Besuchern gleichermaßen. Wahrscheinlich ist er sehr
alt, ein Fabeltier und vorhinduistisch, denn es gibt ihn auch in anderen
asiatischen Kulturen. Das bedeutet: Er ein kollektiver Archetyp asiatischer
Kulturen. Freunde von Mythen und Sagen wissen natürlich, dass es sich um ein
universelles Symbol handelt. Schillernd und unheimlich verkörpert er je nach
kulturellem Umfeld Gutes oder Böses. Die unterschiedlichen Weltkulturen konnten
sich darin nicht einig werden. Der Barong jedenfalls erinnert mehr an Fufur,
den Glücksdrachen in Michael Ende Unendlicher Geschichte, als an Glaurung,
den Drachen in J.R.R. Tolkiens Novelle Túrin Turambar.
Barong in der Pura Taman Ayun in Mengwi |
Königin Kunti, von Rangda,
der Inkarnation der schwarzen Magie, besessen, opfert ihren Stiefsohn Sahadewa
den dunklen Mächten. Siwa greift ein, rettet Sahadewa, in dem er ihm
Unsterblichkeit verleiht. Als Barong repräsentiert er fortan die gute, weiße
Magie, und sorgt für den Ausgleich der kosmischen Kräfte. Wer will, kann aus
dieser Erzählung auch die Ambivalenz Siwas als Schöpfer und Zerstörer
herauslesen.
Die rezente Physiognomie des
Barong, es gibt eine Vielzahl von stilistischen Vorgängern und lokalen
Varianten, die im Museum Setiadarma in Mas ausgestellt werden: seine
runden, vorstehenden Augen, seine spitzen Eckzähne und sein bis auf den Boden
hängendes Fell, Merkmale, die seinen dämonischen Charakter offenbaren. Ob nun
Fabelwesen oder Gott, der Barong ist sakti, mit Magie aufgeladen. Er
wurde einst im Unterwelttempel bei den Toten aufbewahrt, in der Pura Dalem, die
früher immer außerhalb des Dorfes im Süden stand. Durch das Anwachsen der
Ortschaften liegen viele der Pura Dalem inzwischen in den Orten, der von Ubud
unmittelbar an der Hauptachse des Tourismus. Es ist so, als ob man in einer
europäischen Stadt mitten auf dem Friedhof wohnt, noch dazu, wenn man an
Geister und Dämonen glaubt. Der kulturelle Wandel ließ auch die Einstellung zum
Barong und zu den Toten nicht unverändert. Der Kampf des prächtig geschmückten,
glänzenden Barongs, der eigentlich ein Tanz ist, eignet sich vorzüglich zu
einem Event der Unterhaltungsindustrie. Eine kulturelle Überlieferung, die sich
ausgezeichnet vermarkten lässt. Der Barongtanz stellt, gemeinsam mit anderen
Tänzen, inzwischen ein Muss des touristischen Bali-Programms dar.
Der Tanz ist eine
pantomimische Maskerade, ein leicht verständlicher Ausdruckstanz, für Jedermann
nachvollziehbar. Das Maskenspiel dramatisiert ein interkulturelles Phänomen:
den Kampf zwischen Licht und Finsternis, Schöpfung und Zerstörung, in der
balinesischen Folklore zwischen weißer und schwarzer Magie. Wer von den
Zuschauern registriert überhaupt noch, dass er an dem archaistischen Ritual
überhaupt teilnimmt, verborgen im Kostüm des Narren. Ein paar der alten
Barongmasken im Museum in Mas lassen ahnen, wer der Barong wirklich ist. Einen
solchen Verbündeten im Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt wünsche ich mir. Der
Barong repräsentiert eine Macht, ein Symbol, der den Menschen hilfreich zur
Seite steht. Das war der Barong, schreibt Colin McPhee in den 1930ern, ein
wunderschönes Mischwesen, das die einen als Löwen bezeichneten, die anderen als
Bären, wieder andere als Herrscher der Dämonen. In den religiösen
Zeremonien tritt der Barong als eine Maske auf, als Antagonist des Bösen, das
durch Rangda, eine Inkarnation der Unterweltgöttin Durga, beziehungsweise als
Hexe Calonarang, in der Welt erscheint. Aber das macht eigentlich keinen
Unterschied. Der Tanz des Barongs hat immer eine spirituelle Dimension, besitzt
einen direkten Bezug zu den Zeremonien des Pura Dalem, auch dann noch, wenn er
als der populärste Tanz aufgeführt wird. In Ubud inszeniert man ihn regelmäßig
für Touristen aus aller Welt. Der Tanz dramatisiert diesen ewigen, nie endenden
Kampf, in dessen Zentrum sich das Schicksal des Menschen entscheidet: auf
kosmischer genauso wie auf personeller Ebene, in den Gefühlen und Gedanken des
Menschen wie in seiner Welt, in der die gleichen Kräfte existieren, die er in
sich selbst am Werk spürt. Wenn der Barong früher spät in der Nacht, gegen Ende
eines Schauspiels, seinen dramatischen Auftritt hatte, zum aufwühlenden
Klang der Trommeln aus der Dunkelheit auftauchte, fährt Colin McPhee
einfühlsam fort, war er nicht länger das freundliche gefällige Geschöpf. Er
kam langsam und eigenartig bedrohlich näher, sein Gold und seine Spiegel
schimmerten matt im Lampenlicht. Jetzt hatte er die mystische und
übernatürliche Gestalt eines Königs oder Heiligen angenommen, bereit zum Kampf
gegen die Mächte des Bösen, ein Kampf, der ihm die allerletzte Zauberkraft
abforderte, um feindliche Hexen und Dämonen in die Flucht zu schlagen. Das war
ein dunkler Augenblick im Schauspiel, ein Schweben auf der Grenzlinie zwischen
Wirklichkeit und Götterwelt. In diese Auseinandersetzung geraten die
Menschen, die im Sog der freigesetzten, magischen Energie, in ekstatischer
Trance ihren Kris ziehen, diesen gegen sich selbst richten, um das notwendige
Blutopfer darzubringen. Der menschliche Faktor ist das vielbeschworene Zünglein
an der Waage, das in diesem Kampf dem Licht zum Sieg verhilft. Welch eine
ungeheuere Verantwortung! Immer wieder müssen die Kräfte des Bösen zurückgedrängt
werden, ohne sie jemals endgültig besiegen zu können.
Über zwanzig Jahre war ich
nicht mehr in Indonesien; zuletzt, 1995, vier Wochen in Ubud. Den Barong sah
ich damals und ich habe ihn wiedergesehen, und seine implizite Funktion hat
sich seitdem nicht nennenswert geändert. Ich kam damals aus Amanuban, aus
Westtimor nach Ubud. In Amanuban hatte ich zwei Jahre mit meiner Familie
gelebt, und über Tracht und Dichtung geforscht. In dem Monat in Ubud wollte ich
Abschied von Indonesien nehmen. Emotional befand ich mich damals schon auf der
Heimreise. Ich ahnte nicht, dass es vorläufig mein letzter Aufenthalt in meiner
Wahlheimat Indonesien sein sollte.
Ubud im Juni 1995. Die Hauptsaison
im selbsternannten, kulturellen Zentrum der Insel hatte begonnen. Westlicher
Tourismus dominierte das Leben in den Straßen. Ich war an Menschenmassen, wie
sie durch Ubud flanierten, an das Szenario von Angebot und Nachfrage, an meine
Rolle als Tourist, als der ich wieder wahrgenommen wurde, nicht mehr gewöhnt.
Im fernen Amanuban spielte das Leben für mich eine andere Melodie. Tourismus
gab es nur in Kupang, wenn überhaupt, und Europäer waren seltene Besucher auf
der Insel. Ich kam aus der Abgeschiedenheit und intensiven Forschungsarbeit der
indonesischen Provinz in eins der umtriebigsten Dörfer des Archipels. Ich hatte
Freundschaften zurückgelassen, in Ubud nichts als geschäftliche Kontakte
gewonnen. Mit anderen Worten: Plötzlich war ich ein Tourist unter Hunderten. Ich
weigerte mich, diese Rolle zu spielen.
Kulturschock! Bereits auf der
Heimreise nach Deutschland? Heimweh nach Timor! Der Wunsch, auch in Ubud als
Person, und nicht nur als Rolle, als Maske in einem Spiel, wahrgenommen zu
werden. Ich war enttäuscht. Ich nahm mir viel zu leichtsinnig vor, nie mehr zurückzukehren.
Mittlerweile sind mehr als zwanzig
Jahre vergangen. Ich bin noch einmal zurückgekommen, und weiß noch immer nicht
genau warum. Meine Liebe zu Indonesien vielleicht, besonderes zur balinesischen
Kultur und Lebensart. Wegen der Menschen und der harmonischen Atmosphäre, die
ihr Verhalten und ihr Handeln ausstrahlt. Zwanzig Jahre habe ich in einem Leben
verbracht, in dem ich diese Gefühle, diese Sehnsucht, nicht zulassen konnte. In
dem Augenblick, in dem ich frei und unabhängig wurde, mein Leben nach meinen
Bedürfnissen zu leben, war sie wieder da: die Sehnsucht nach den Tropen, die
mich, seit ich sie kennengelernt, begleiten. Nun bin zurückgekommen, ein ganz
anderer als damals, aus anderen Beweggründen und in eine andere Zeit. Vielleicht
bin ich gekommen, um mir eine neue Chance zu geben, um zu sehen, was inzwischen
aus meiner Liebe geworden ist.
Die Reflexionen der acht Wochen
in Bali, und meine innere Auseinandersetzung mit einer alten Leidenschaft, sind
in den Erzählungen dieses Buchs zusammengefasst. Es handelt sich um fiktive
Briefe, die ich mir selbst schreibe, um den Prozess meiner Befindlichkeit in
Bali – zwanzig Jahre später besser zu verstehen.
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