Sonntag, 12. Februar 2017

Barong - ein Prolog


Ich erinnere mich daran, es heißt, Barong sei eine Abkürzung von beruang, Bär. Banasapati Raja, einer der vier spirituellen Geschwister der Menschen, soll das Vorbild für den Barong gewesen sein. Trotzdem wird in den Informationen für Touristen immer wieder von dem löwenähnlichen Charakter des Barongs gesprochen. Wie dem auch sei: Der Barong ist eine populäre folkloristische Gestalt aus der balinesischen Kultur. Bei Einheimischen wie Besuchern gleichermaßen. Wahrscheinlich ist er sehr alt, ein Fabeltier und vorhinduistisch, denn es gibt ihn auch in anderen asiatischen Kulturen. Das bedeutet: Er ein kollektiver Archetyp asiatischer Kulturen. Freunde von Mythen und Sagen wissen natürlich, dass es sich um ein universelles Symbol handelt. Schillernd und unheimlich verkörpert er je nach kulturellem Umfeld Gutes oder Böses. Die unterschiedlichen Weltkulturen konnten sich darin nicht einig werden. Der Barong jedenfalls erinnert mehr an Fufur, den Glücksdrachen in Michael Ende Unendlicher Geschichte, als an Glaurung, den Drachen in J.R.R. Tolkiens Novelle Túrin Turambar.

Barong in der Pura Taman Ayun in Mengwi
Königin Kunti, von Rangda, der Inkarnation der schwarzen Magie, besessen, opfert ihren Stiefsohn Sahadewa den dunklen Mächten. Siwa greift ein, rettet Sahadewa, in dem er ihm Unsterblichkeit verleiht. Als Barong repräsentiert er fortan die gute, weiße Magie, und sorgt für den Ausgleich der kosmischen Kräfte. Wer will, kann aus dieser Erzählung auch die Ambivalenz Siwas als Schöpfer und Zerstörer herauslesen.
Die rezente Physiognomie des Barong, es gibt eine Vielzahl von stilistischen Vorgängern und lokalen Varianten, die im Museum Setiadarma in Mas ausgestellt werden: seine runden, vorstehenden Augen, seine spitzen Eckzähne und sein bis auf den Boden hängendes Fell, Merkmale, die seinen dämonischen Charakter offenbaren. Ob nun Fabelwesen oder Gott, der Barong ist sakti, mit Magie aufgeladen. Er wurde einst im Unterwelttempel bei den Toten aufbewahrt, in der Pura Dalem, die früher immer außerhalb des Dorfes im Süden stand. Durch das Anwachsen der Ortschaften liegen viele der Pura Dalem inzwischen in den Orten, der von Ubud unmittelbar an der Hauptachse des Tourismus. Es ist so, als ob man in einer europäischen Stadt mitten auf dem Friedhof wohnt, noch dazu, wenn man an Geister und Dämonen glaubt. Der kulturelle Wandel ließ auch die Einstellung zum Barong und zu den Toten nicht unverändert. Der Kampf des prächtig geschmückten, glänzenden Barongs, der eigentlich ein Tanz ist, eignet sich vorzüglich zu einem Event der Unterhaltungsindustrie. Eine kulturelle Überlieferung, die sich ausgezeichnet vermarkten lässt. Der Barongtanz stellt, gemeinsam mit anderen Tänzen, inzwischen ein Muss des touristischen Bali-Programms dar.

Der Tanz ist eine pantomimische Maskerade, ein leicht verständlicher Ausdruckstanz, für Jedermann nachvollziehbar. Das Maskenspiel dramatisiert ein interkulturelles Phänomen: den Kampf zwischen Licht und Finsternis, Schöpfung und Zerstörung, in der balinesischen Folklore zwischen weißer und schwarzer Magie. Wer von den Zuschauern registriert überhaupt noch, dass er an dem archaistischen Ritual überhaupt teilnimmt, verborgen im Kostüm des Narren. Ein paar der alten Barongmasken im Museum in Mas lassen ahnen, wer der Barong wirklich ist. Einen solchen Verbündeten im Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt wünsche ich mir. Der Barong repräsentiert eine Macht, ein Symbol, der den Menschen hilfreich zur Seite steht. Das war der Barong, schreibt Colin McPhee in den 1930ern, ein wunderschönes Mischwesen, das die einen als Löwen bezeichneten, die anderen als Bären, wieder andere als Herrscher der Dämonen. In den religiösen Zeremonien tritt der Barong als eine Maske auf, als Antagonist des Bösen, das durch Rangda, eine Inkarnation der Unterweltgöttin Durga, beziehungsweise als Hexe Calonarang, in der Welt erscheint. Aber das macht eigentlich keinen Unterschied. Der Tanz des Barongs hat immer eine spirituelle Dimension, besitzt einen direkten Bezug zu den Zeremonien des Pura Dalem, auch dann noch, wenn er als der populärste Tanz aufgeführt wird. In Ubud inszeniert man ihn regelmäßig für Touristen aus aller Welt. Der Tanz dramatisiert diesen ewigen, nie endenden Kampf, in dessen Zentrum sich das Schicksal des Menschen entscheidet: auf kosmischer genauso wie auf personeller Ebene, in den Gefühlen und Gedanken des Menschen wie in seiner Welt, in der die gleichen Kräfte existieren, die er in sich selbst am Werk spürt. Wenn der Barong früher spät in der Nacht, gegen Ende eines Schauspiels, seinen dramatischen Auftritt hatte, zum aufwühlenden Klang der Trommeln aus der Dunkelheit auftauchte, fährt Colin McPhee einfühlsam fort, war er nicht länger das freundliche gefällige Geschöpf. Er kam langsam und eigenartig bedrohlich näher, sein Gold und seine Spiegel schimmerten matt im Lampenlicht. Jetzt hatte er die mystische und übernatürliche Gestalt eines Königs oder Heiligen angenommen, bereit zum Kampf gegen die Mächte des Bösen, ein Kampf, der ihm die allerletzte Zauberkraft abforderte, um feindliche Hexen und Dämonen in die Flucht zu schlagen. Das war ein dunkler Augenblick im Schauspiel, ein Schweben auf der Grenzlinie zwischen Wirklichkeit und Götterwelt. In diese Auseinandersetzung geraten die Menschen, die im Sog der freigesetzten, magischen Energie, in ekstatischer Trance ihren Kris ziehen, diesen gegen sich selbst richten, um das notwendige Blutopfer darzubringen. Der menschliche Faktor ist das vielbeschworene Zünglein an der Waage, das in diesem Kampf dem Licht zum Sieg verhilft. Welch eine ungeheuere Verantwortung! Immer wieder müssen die Kräfte des Bösen zurückgedrängt werden, ohne sie jemals endgültig besiegen zu können.

Über zwanzig Jahre war ich nicht mehr in Indonesien; zuletzt, 1995, vier Wochen in Ubud. Den Barong sah ich damals und ich habe ihn wiedergesehen, und seine implizite Funktion hat sich seitdem nicht nennenswert geändert. Ich kam damals aus Amanuban, aus Westtimor nach Ubud. In Amanuban hatte ich zwei Jahre mit meiner Familie gelebt, und über Tracht und Dichtung geforscht. In dem Monat in Ubud wollte ich Abschied von Indonesien nehmen. Emotional befand ich mich damals schon auf der Heimreise. Ich ahnte nicht, dass es vorläufig mein letzter Aufenthalt in meiner Wahlheimat Indonesien sein sollte.

Ubud im Juni 1995. Die Hauptsaison im selbsternannten, kulturellen Zentrum der Insel hatte begonnen. Westlicher Tourismus dominierte das Leben in den Straßen. Ich war an Menschenmassen, wie sie durch Ubud flanierten, an das Szenario von Angebot und Nachfrage, an meine Rolle als Tourist, als der ich wieder wahrgenommen wurde, nicht mehr gewöhnt. Im fernen Amanuban spielte das Leben für mich eine andere Melodie. Tourismus gab es nur in Kupang, wenn überhaupt, und Europäer waren seltene Besucher auf der Insel. Ich kam aus der Abgeschiedenheit und intensiven Forschungsarbeit der indonesischen Provinz in eins der umtriebigsten Dörfer des Archipels. Ich hatte Freundschaften zurückgelassen, in Ubud nichts als geschäftliche Kontakte gewonnen. Mit anderen Worten: Plötzlich war ich ein Tourist unter Hunderten. Ich weigerte mich, diese Rolle zu spielen.
Kulturschock! Bereits auf der Heimreise nach Deutschland? Heimweh nach Timor! Der Wunsch, auch in Ubud als Person, und nicht nur als Rolle, als Maske in einem Spiel, wahrgenommen zu werden. Ich war enttäuscht. Ich nahm mir viel zu leichtsinnig vor, nie mehr zurückzukehren.
Mittlerweile sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Ich bin noch einmal zurückgekommen, und weiß noch immer nicht genau warum. Meine Liebe zu Indonesien vielleicht, besonderes zur balinesischen Kultur und Lebensart. Wegen der Menschen und der harmonischen Atmosphäre, die ihr Verhalten und ihr Handeln ausstrahlt. Zwanzig Jahre habe ich in einem Leben verbracht, in dem ich diese Gefühle, diese Sehnsucht, nicht zulassen konnte. In dem Augenblick, in dem ich frei und unabhängig wurde, mein Leben nach meinen Bedürfnissen zu leben, war sie wieder da: die Sehnsucht nach den Tropen, die mich, seit ich sie kennengelernt, begleiten. Nun bin zurückgekommen, ein ganz anderer als damals, aus anderen Beweggründen und in eine andere Zeit. Vielleicht bin ich gekommen, um mir eine neue Chance zu geben, um zu sehen, was inzwischen aus meiner Liebe geworden ist.

Die Reflexionen der acht Wochen in Bali, und meine innere Auseinandersetzung mit einer alten Leidenschaft, sind in den Erzählungen dieses Buchs zusammengefasst. Es handelt sich um fiktive Briefe, die ich mir selbst schreibe, um den Prozess meiner Befindlichkeit in Bali – zwanzig Jahre später besser zu verstehen.

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