Freitag, 3. Februar 2017

Auf dem Campuan-Kamm


Ich höre jetzt immer häufiger, dass in Deutschland der Winter eingetroffen ist. Es ist sehr kalt in der fernen Heimat. Minusgrade kann ich mir gerade nur schwer vorstellen: Minus fünf Grad und Sonnenschein in Berlin, zeigt mir jemand auf dem Smartphone. Ich erinnere mich, aber fühlen kann ich es gerade nicht. In Ubud ist es heute besonders drückend, denn es hat seit gestern wieder viel geregnet. Der Himmel hat sein Blau verloren. Es ist einheitlich grau. Meine Kleider sind seit Tagen feucht, nichts trocknet mehr und meine Nase beschwert sich über den muffigen Geruch.

Gestern war ich auf einer langen Wanderung durch Reisfelder und kleine Weiler unterwegs. Doch es gab kein Entkommen. Immer wieder stehe ich auf einer stark befahrenen Straße. Enge Landstraßen, auf denen ständig viel Verkehr herrscht. Kein Randstreifen, auf einen Bürgersteig zu hoffen ist vermessen. Kilometerlange, öde Asphaltbänder, grau wie der Himmel vor einem Wolkenbruch. Die Fahrzeuge rasen so dicht an mir vorbei, dass ich den Fahrtwind auf der Haut spüre. Doch ich erreiche Campuan unversehrt, und stehe dort, wo früher der Hotelpool war, und ich in der Schlucht am Ufer des Sungai Wos gesessen habe. Das Wasser bildete damals eine Bucht, in die die Jungen von einem Felsen sprangen und vergnügt herumtollten. Das Hotel mit dem Pool konnte ich zwischen den vielen neuen Häusern, Souvenirläden, Menschenansammlungen und Autoschlangen, die alles verstopfen und meinen Blick behindern, nicht mehr finden. Er ist nicht mehr da, wo er in meiner Erinnerung hingehört. Anscheinend gibt es den Pool nicht mehr, der noch dazu öffentlich war.  Ich schaue von der Brücke hinunter in den um Felsbrocken wirbelnden Fluss. Den Weg hinunter ins Flusstal, an den Zusammenfluss von Sungai Wos und Sungai Cerik, finde ich leicht wieder. Es stimmt mich fröhlich und glücklich zugleich, als ich unten am Ufer auf einem Geröllbrocken sitze, den Kopf voller Erinnerungen, die Brücke, weit über mir, wo unablässig der Verkehr lärmt. Lange Zeit sitze ich im kühlen Schatten, umhüllt von grünem Licht, ruhig am Sungai Wos, verliere mich in den strudelnden Wellen und lausche dem schnell fließenden Wasser, das weiß schäumt und glucksend und plätschernd über große Steine rollt. Mein Blick fällt auf eine kleine Tempelanlage, ein paar Schreine gegenüber am anderen Ufer, gelb-weiße Schirme mit goldenen Trodeln spenden den Göttern Schatten, wenn sie denn kommen. In einem weit geschwungenen Halbkreis stehen übereinander mehrere Reihen mit Keramikstatuen und Statuetten. Auf die Farbe des braunen Tons hat sich grüner Überzug gelegt, Moose oder Algen vermute. Die Gestalt der Rangda kann ich gut an ihren großen Augen und der heraushängenden Zunge erkennen. Sie ist eine Inkarnation der Durga, der hinduistischen Totengöttin, die gleichzeitig eine Erdmutter ist. Eine exotische Szene, eine Atmosphäre, die das Herz des zivilisationsmüden Westeuropäers höher schlagen lässt. Die Entdeckung einer Landschaft, die zugleich eine Erfindung ist. Die Maler der Romantik haben solche Szenen in den deutschen Landschaften entdeckt. Wie gut ich ich allein hier unten sitze, Es muss still sein, ohne Störung im Landschaftsbild, das mich umgibt. Atmosphären sind empfindliche Gespinste.


Votivgabe am Zusammenfluss von Sungai Wos und Sungai Cerik

Später stieg ich die nassen und rutschigen Stufen hinunter ins Tal hinauf zur Pura Gunung Lebah, dem malerisch auf dem Berg der Honigbienen gelegenen Tempel. An den mit schwarzen Fasern gedeckten Dächern von Schreinen und Balais vorbei, aus denen Gamelanmusik herüberklingt, schlängelt sich ein Weg auf den Kamm des Berges: der Campuan Ridge Way. Ein neun Kilometer langer Rundweg auf einem Kamm, der zwischen dem Wos und dem Cerik aufragt, führt zurück nach Ubud. Wanderer gehen vor mir, andere kommen mir entgegen, es gibt kaum einsame Abschnitte. Wandern ist auch in Bali angekommen. Die Aussicht über das Tal des Wos hinüber nach Ubud präsentiert sich in Südseeromantik. Ich gehe durch Wäldchen, durch Weiler, die touristisch ganz auf die vorbeikommenden Wanderer eingestellt sind. Bauruinen wirken verloren wie faule Zähne im versehrten Kiefer. Die Natur und das ländliche Bali, das ich mir wünsche, finde ich schon wieder nicht. Ich weiß, es ist naiv, zu glauben, so kurz vor den Toren Ubuds habe der Tourismus keine Spuren ausgetreten. Der Klub Kokos ist ein gastlicher Ort, ein Restaurant mit Spa-Bereich, über einen Teich gebaut, wo es überall um mich herum plätschert und mein Blick weit über die Reisfelder schweifen kann. Nass geschwitzt und durstig kommt die junge Kokosnuss rechtzeitig und erfrischend. Es fällt mir schwer aus der kühlen und schattigen Idylle zurück auf die heiße Straße zu gehen. So verwöhnt Bali seine Gäste. Der Klub Kokos ist die letzte Bastion des Tourismus. Die meisten meiner Mit-Wanderer gehen nach dem Restaurantbesuch zurück nach Campuan. Jenseits des Clubs beginnt das ländliche Bali. Der Weg führt an Reisfeldern vorbei, an einem kleinen Subak-Wassertempel am Rand von Bangkiang Sidem und durch das Dorf, dessen Straßen ich in der Mittagshitze für mich alleine habe. Über eine Landstraße komme ich hinunter ins Tals des Cerik, der als schäumender Bergbach durch die enge Schlucht donnert. Ein Radwanderer, professionell ausgerüstet, keucht mir entgegen die Steigung hinauf, während ich auf den Stufen eines verlassenen Hauses im Schatten sitze. Kaum habe ich die Brücke über den Sungai Cerik überquert, führt die Straße steil hinauf nach Payogan. Und dann sind sie wieder da, die Reisebusse und LKW, die mich mich von der Straße drängen. Payogan ist ein charakteristisches, balinesisches Straßendorf, das sich die leichte Steigung hinunter bis nach Kedewatan reicht. Auf beiden Seiten der Straße reihen sich quadratische Gehöfte aneinander, von einer Mauer umgeben, zu denen eine Treppe hinaufführt. Gelegentlich gibt es sie noch, die Geistermauer, die quer zum Eingang aufgestellt, den unerwünschten Besucher aus dem spirituellen Reich zwingt um die Ecke zu gehen. Geister sind dazu zu dumm, weiß der Balinese. Sie müssen draußen bleiben, damit sie nicht den Frieden des Gehöfts zerstören. Was gäbe ich für eine solche Mauer gegen die Konsumwut des Kapitalismus! Schon oft ist die Geistermauer durch eine Statue ersetzt, meistens durch einen feisten Ganesa, der den Wohlstand der Bewohner repräsentiert. Haben Geister Bali verlassen? Doch die Hunde sind noch da. Sie kommen aus dem Hof herausgeschossen, stehen auf der obersten Stufe, und verbellen mich tapfer und umissverständlich. Die mutigsten, besonders, wenn sie zu mehreren sind, begleiten mich ein Stück die Straße hinunter, knurrend, ihr Gebiss dicht an meiner Wade. Ich mache es den Balinesen nach und ignoriere sie. Ich bin immer wieder erstaunt, wie genau sie wissen, dass ich es bin, der kommt, und kein Einheimischer. Gezielt wählen sie sich mich für ihr Spektakel aus 

Zwischen den Gehöften befinden sich die Tempel. Einer steht auf der höchsten Erhebung im Zentrum des Dorfes, ein anderer in der Nähe der südlichen Dorfgrenze. Ihre Namen habe ich vergessen mir zu merken. Immer wieder Läden und Warungs mit ihrem bunt gewürfelten Warenangebot, die zur Straße hin offen sind. An einer Tempelmauer liegen Votivsteine aufgehäuft, alte, grün überwachsene Miniaturskulpturen, darunter eine Rangda, deren lange Zunge ihr aus dem Mund hängt. Die gleichen Votivgaben, die auch am Fuß der Pura Gunung Lebah aufgehäuft wurden, auf der Uferböschung, unmittelbar am Zusammenfluss der beiden Flüsse. Die Bilderbuchlandschaft aus sprudelnden Wasserwegen, vorbei an Reisfeldern und schönen Villen, von der mir erzählt wurde, habe ich nicht gefunden. Ich muss irgendwo falsch abgebogen sein. Stattdessen strande ich in einer idyllischen Sackgasse. Am Restaurant Mozaic führt zwar ein Weg von der Jalan Raya Sanggingan zurück in die Natur, aber mitten hinein in die bio-dynamische Gartenlandschaft des Restaurants Kelapa, in denen der Gast sein Gemüse selbst ernten kann. Der Koch des Hauses bereitet ihm anschließend das Gemüse frisch zu. Wieder einmal sind Arbeitsplätze wegrationalisiert worden.
Nach Campuan ist es nicht mehr weit. Ich raste auf einer der Bänke, die auf der alten, schwankenden Hängebrücke über den Sungai Wos stehen, die bei jedem Tritt leicht erbebt und deren Holzbohlen löchrig sind. Dem stetig zunehmenden Autoverkehr war sie eines Tages nicht mehr gewachsen. Aus dem grün schimmernden Schatten unter den Blättern und Luftwurzeln der Waringinbäume sehe hinüber auf die moderne, benachbarte Zwillingsbrücke, über die ununterbrochen der Verkehr rauscht, so laut, dass er das Rauschen des Flusses unter mir übertönt. Ein für Ubud charakteristisches Stelldichein von alt und neu, Tradition und Moderne.

Den Gedanken, Bali von Süd nach Nord zu durchwandern, habe ich aufgeben. Ohne Wanderkarten bleiben nur die Straßen mit ihrem dichten Verkehr. Zu stressig und zu gefährlich. In einer Woche ziehe ich mich in die Berge Nordbalis zurück und versuche dort mein Wanderglück. Es schon längst dunkel. Meinen Cappuccino habe ich ausgetrunken. Auf der Straße flanieren auf beiden Seiten Touristen auf der Suche nach einem geeigneten Restaurant, um den Abend ausklingen zu lassen. Ich gehe zurück nach Hause, und verbringe den Abend in Nyomans Garten.

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