Freitag, 3. Februar 2017

Goa Gajah et.al.


Ich bin seit fünf Stunden mit dem Rad unterwegs. Eine Stunde habe ich bei einer Flasche Teh Botol, gesüßtem Tee in der Flasche, und einem heftigen Tropenregen in einem Warung in Bedulu verbracht. Jetzt bin ich zurück in Ubud, in meinem Stammcafé und trinke . . . na was wohl?
Ich bin schon vor acht aufgebrochen und habe die archäologische Anlage der Goa Gajah fast eine ganze Stunde für mich allein. Welch ein friedlicher Ort! Eine Atmosphäre für Träume, still, das graue Gestein der Skulpturen und Bauten. Das mysteriöse Loch in der Wand, das eine verschlingende Fratze umrahmt. Alles eingebettet in ein mannigfaches Grün. Es fällt mir leicht, alles Urbane, Moderne und Kultivierte wegzudenken, mich der am frühen Morgen noch abgeschiedenen, archaischen Szenerie zu überlassen. Ich verstehe, warum die hinduistischen und später buddhistischen Mönche sich hierhin zurückgezogen haben. Ich sitze in einer ihrer aus dem Fels gehauenen, alterslosen Meditationsnischen und staune über die kaum spürbare Zeit, die seitdem vergangen ist.

Die Goa Gajah, die Elefantenhöhle, wie sie allgemein genannt wird, ist eine kleine Höhle mit einer Ganeshastuette und dem Siwa-Lingga-Schrein seines Vaters. Deshalb auch Elefantenhöhle, weil Ganesha aufgrund eines tragischen Irrtums ein Elefantenhaupt besitzt, und deshalb nichts auf die majestätischen Dickhäuter hinweist. Hinter einem Badeplatz, der unter das Bodenniveau abgesunken ist, bewacht ein zwei Meter hohes, aufgerissenes Maul den Eingang in eine Höhle, ein rundes Loch in der Felswand. Ein Dämon, der das Tor zur Unterwelt schützt, und nur dem Mutigen Einlass gewährt. Ein Kala Boma, dessen monströs-fratzenartiger Kopf mit seinen hervorquellenden Augen und dem weit aufgerissenem Maul über vielen Tempeltoren in Bali seinen apotropäischen Dienst tut. Glaubt man dem Volksmund, steht der Besucher vor dem Selbstporträt des Riesen Kebu Iwo, der auch anderswo auf Bali seine Spuren hinterlassen hat. Der Kala Boma repräsentiert die zerstörerischen Kräfte Shivas, und wehrt alles Unheil von den heiligen Stätten ab. Indem er die unerwünschten Dämonen mit ihrer eigenen Schrecklichkeit konfrontiert, ihnen ihre eigen Fratze spiegelt, wehrt er sie ab. In Indien heißt dieser Außendekor an Tempeln Kirtamukha, glorreiches Gesicht. Der balinesische Kala Boma markiert die Grenze zwischen der alltäglichen Welt und dem Heiligtum. Ich schlüpfe mit eingezogenen Schultern in das weit aufgerissene Maul in die Höhle wie in eine Erdvagina. Ein Geburtskanal führt zurück ins Erdinnere. Finster ist es im Inneren der Höhle, die nur durch ein paar Funzeln schwach beleuchtet ist. Die Schreine und ihre steinernen Skulpturen kann ich nur schwach erkennen, und auch erst, als meine Augen sich an das Zweilicht gewöhnt haben. Höhlenheiligtümer wie das der Goa Gajah bilden einen Zwischenraum, der das Eingebettetsein in die Welt garantiert. Dabei handelt es sich um eine uns kaum mehr vorstellbare dichte Verbundenheit von außen und innen, eine uns kaum mehr nachfühlbare Entsprechung von Psyche und Natur, einer participation mystique, einer ökologischen, ganzheitlichen Einstellung zum Leben, die zuerst Lucien Lévi-Bruhl beschrieben hat. Der uterinische Charakter der Höhle ist ein ununterschiedener Raum, der dem Fehlen eines Ich-Bewusstseins entspricht. Ein sich-seiner-selbst-bewusstes Ich, das sich Raum und Zeit gegenüberstellen kann, suchte man einst in dieser Höhle vergeblich.


Eingang in die Goa Gajah

Eine Nische des T-förmigen Inneren der Höhle beherbergt die Ganesha-Skulptur und drei Linggas auf einer Steinplatte, die aus einem einzigen Block herausgehauen wurden: das Phallus des hinduistischen Gotts Shiwa. Der Gott als Trimurti: Brahma, Wisnu und Shiwa. Jedem Linggam sind acht Miniaturlingga beigeordnet, die die acht Weltenwächter darstellen, die schöpferische Energie Shiwas, die in alle Richtungen ausstrahlt. Ein hinduistisches Höhlenheiligtum, das seit 1074 als Kultstätte benutzt wurde. Höhle und Lingga, die Vereinigung der Geschlechter, des Schöpferischen und Welterhaltenden. Ganeshas Höhle ist eine distanzlose Welt, in der die Regeln des Außen, die Welt der Differenzierungen, nicht mehr gelten: ein im Mutterschoß-Sein, eine Zentrierung auf die psychische Energie im Menschen. Hades und Hölle der westlichen Kulturen besitzen ihren Gewölbecharakter nicht von ungefähr; dies ist der Nacht-Aspekt, die Mutterdunkelheit, die Geborgenheit und das gebärende Prinzip. Indem die Initianden in die Höhle geführt werden, betreten sie als Mysten nicht nur erneut die Geborgenheit des Mutterschosses, die in einer Weise der Finsternis der Unterwelt gleichkommt, der in sich ruhenden Höhle. Sie betreten ebenfalls ihre eigene Innenwelt, vor allem die Welt der Ungeheuer, Clowns und Dämonen, die ihren persönlichen Schatten repräsentieren. In der Höhle von Goa Gajah wurden die Initianden einst mit dem Numinosen konfrontiert. Und Ganesha? Er ist ein Trickster wie Hermes, ein Psychopomp, unter dessen Schutz und Vermittlung der Übergang geschieht.
Durch einen tropischen Wald klettere ich den Hang hinunter in ein Flusstal. Ich hätte ewig dort sitzen, lauschen und schauen können. Zwei Männer säubern das Gelände von Laub und Abfall. Das Terrain der Goa Gajah ist nicht nur ein bedeutendes archäologisches Denkmal. Immerhin ist es ein heiliger Ort. Von Small Talk zu Small Talk wandere ich umher. Und dann kommen die Japaner.

Später radele ich weiter nach Yeh Pulu, hinunter in die Reisfelder. Dort gibt es ein anderes archäologisches Denkmal, ein vielleicht zwanzig Meter langes Hochrelief, das in den Felsen geschnitten ist. Es stammt aus dem 14. oder 15. Jahrhundert informiert mich eine Tafel am Eingang. Das Relief zeigt dörfliche Szenen, die das Leben im Dschungel illustrieren, ein anonymer Künstler hat sie einst in den harten Stein geschnitten. Auf einer Pilgerfahrt im letzten Sommer habe ich ein vergleichbares Relief kurz vor Naumburg gesehen. Es trägt den Namen Bilderbuch, zeigt Szenen aus der Bibel, die von Weingenuss und Rebenanbau erzählen, eine Auftragsarbeit, die im 19. Jahrhundert ein Künstler in den Felsen, auf dem der Wein wächst, geschlagen hat.
Yeh Pulu, das Wasserbassin, ist eine antike Kultstätte. Die ungewöhnlich plastischen und ausdrucksvollen Figuren sind wahrscheinlich im 14. oder 15. Jahrhundert entstanden, so genau weiß das niemand. Sie stellen Szenen aus dem balinesischen Alltag dar. In einer anderen Lesart soll es sich dabei um Episoden aus den Leben Kreshnas handeln. Der Fries beginnt mit dem Berg-Baum-Symbol wie es auch zu Beginn eines Schattenspiels zu sehen ist, daneben eine kleine Ganesha-Figur. Es gibt Männer, die Kalebassen für die Palmweinherstellung an einer Tragstange befördern, ein Getränk in vielen Ritualen, ein Haus, in dessen Eingang eine Frau steht, Ornamentbänder mit Spiralen, wie sie auf den Textilien der proto-malaiischen Ethnien üblich sind, Dämonenfiguren als Wächter und eine Jagdszene. Ein zweite Ganesha-Figur beschließt den Bilderbogen. Es ist zweifelhaft, ob es sich bei der Anlage von Yeh Pulu um eine Asketenklause gehandelt hat. Dazu, glaube ich, ist die Ausgestaltung zu aufwändig und einzigartig, besonders zu weltlich ausgerichtet. Es ist aber gut möglich, dass hier Initiationsriten durchgeführt wurden, Durchgangsriten für zukünftige Asketen. Für den Volksmund gibt es keinen Zweifel, dass auch hier Kebo Iwo am Werk war, der das Relief mit seinen Krallen aus dem Felsen gekratzt hat. Schön war es auch in Yeh Pulu – friedlich nach dem lauten Ubud und seinen vollen Straßen.

Nachmittags radele ich die steile Landstraße nach Pejeng hinauf um den großen Bronzemond wiederzusehen, ein antike Gong, von dem die Legende erzählt, er sei vom Himmel gefallen. Ich kann ihn aber nicht finden, und auch niemanden fragen, da alle mit den Vorbereitungen für eine Tempelzeremonie beschäftigt sind. Die Männer und Frauen sind von meiner Anwesenheit nicht angetan, und schauen mürrisch zu mir herüber. Eine Frau in einem Warung an der Straße zurück nach Ubud begegnet mir freundlicher und bereitet mir zum Trost einen fantastischen Nasi Campur zu: weißen Reis mit vielen verschiedenen Beilagen. Als ich aufbreche, beginnt es wieder heftig zu regnen. Noch ein Warung, noch eine Flasche Teh Botol, und eine lange Wartezeit. Es ist nicht langweilig, denn ich sitze im Trockenen an der Durchgangsstraße, wo es viel zu sehen gibt. Gegenüber hält ein PickUp, die Ladefläche vollgepackt mit Hühnern. In sieben Käfigetagen transportiert er hunderte Hühner, die zerzaust und zusammengequetscht ihr letztes Stündlein erwarten. Das arg misshandelte Federvieh zerrt an meinen Nerven. Mitleid und Zorn regen sich in mir. Ich dränge den Impuls, einzuschreiten, mühsam zurück, so sehr stößt mich die Brutalität der Männer ab. Die Hühner ähneln Bündeln von weißem und zerzaustem Federn, blass und apathisch, im Blick traurige Resignation, kein Wille zum Widerstand.
Aus dem PickUp springen drei Männer, öffnen zwei der Käfigetagen, reißen wahllos Hühner an ihren Flügeln heraus und werfen sie in große Körbe, die neben dem Fahrzeug im Regen stehen. Zwanzig bis dreißig Hühner landen in jedem der Körbe, die nun mit einer großen Federwaage, die am PickUp hängt, gewogen werden. Ein kurzes Kreischen, schon liegen sie übereinander und durcheinander im Korb. Nach dem Wiegen werfen die Männer sie in andere Körbe, die vor dem Warung im Regen auf der Straße standen. Ein Bündel Geldscheine wechselt den Besitzer, der es in seiner Hüfttasche verstaut, einsteigt und zum nächsten Abnehmer fährt. Die Tiere kennen kein anderes Leben, sie sind in dieses hineingeboren. Sie sind lebendes Hühnerfleisch als Kiloware. Massentierhaltung in Südbali. Huhn bildet das bevorzugte Fleisch, überall im Restaurant oder am Warung ist es im Angebot: als Soto Ayam, Sate Ayam, Ayam Bakar, als Beilage zum Nasi Campur oder in kleinen Stückchen im Nasi Goreng und vielen anderen Gerichten. Die wenigen Stückchen Huhn, die ich eben in meinem Reisgericht gegessen habe, bleiben mir noch nachträglich im Hals stecken. Vegetarisch zu leben, ist in Bali nur möglich, wenn man in den für Touristen gedachten Restaurants isst. Falls nicht, dann ist immer wieder Hühnerfleisch unter die Gerichte gemischt. Nie wieder Hühnerfleisch nehme ich mir noch einmal vor. Kaum ist der PickUp weitergefahren, es hat inzwischen aufgehört zu regnen, und ich will weiter, kommt ein zweiter Transporter, der Dutzende schöne Hähne mit rotbraunen Gefieder in engen Käfigen geladen hat. Die Prozedur wiederholt sich ein weiteres Mal. Nebenan, im Trockenen unter der Markise seines Warungs, hat der Hühnerkäufer seine beiden Kampfhähne in großen, geflochtenen Körben stehen, damit sie das Treiben auf der Straße unterhält. Welch ein Widerspruch! Manche Hähne sind anscheinend gleicher als andere.
Ich schreibe gegen das Vergessen! Eine Diskussion über misshandelte Hühner zu führen, macht keinen Sinn. Kaum jemand wird mich verstehen, obwohl der Hinduismus sich zur Gewaltfreiheit und zum Vegetarismus bekennt. Der Balinese ist wie der Deutsche ein Fleischesser, wenn er es auch nicht in den gleichen Mengen verzehrt. Den größten Teil des Hühnerfleischs finden jedoch die Touristen auf ihren Tellern wieder. Die Problematik der Mit-Geschöpflichkeit dringt, trotz und Hinduismus und Reinkarnation, gerade erst ins Bewusstsein. Der Umweltschutz steckt noch in den Kinderschuhen. Ich bin auf drei Projekte gestoßen, die sich um verwahrloste, kranke und halbverhungerte Hunde kümmern, die überall in den Straßen herumlungern. Ein vielversprechender Anfang. Wie war es bei uns vor fünfzig Jahren? Fairerweise darf ich das nicht aus dem Blick verlieren. Jeder freut sich über Wohlstand und einen guten Lebensstandard. Erst viel später rücken die übersehenen oder vernachlässigten Konsequenzen ins Bewusstsein und man wundert sich, wie das nur passieren konnte. Das Bewusstsein ist eine Schildkröte, und kommt anscheinend nicht schneller voran.

Ein Tag mit kontroversen Eindrücken neigt sich dem Ende zu. Meinen Cappuccino habe ich ausgetrunken. Bevor ich in Versuchung komme, mir den nächsten zu bestellen, breche ich auf. Die Luft riecht frisch und sauber, weiterer Regen liegt in der Luft. Die allgegenwärtigen Abgasen haben einen Moment an Schärfe verloren, und ich bin wieder halbwegs trocken. Es ist immer besonders heiß und drückend, wenn es gerade geregnet hat.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen