Donnerstag, 12. Januar 2017

Nirartha, Tempel und Makaken


Ich treffe Made, meine Gastgeberin, am Eingang in ihr Gehöft. Sie ist Mitte Vierzig, Mutter von vier Kindern. Sie war einige Jahre Pembantu, Servicekraft, in dem Luxusresort Matahari Beach Hotel in Pemuteran. Zusammen mit ihrem Mann hat sie sich vor ein paar Jahren selbständig gemacht und das Pondok Cangked Guesthouse eröffnet. Sie ist perfekt in allem was sie für ihre Gäste tut. Ihr Frühstück ist nicht nur reichhaltig und köstlich, es ist auch liebevoll arrangiert. Eine Augenweide! Auch ihr Äußeres fällt aus dem Rahmen, verglichen mit dem alltäglichen Bild der Frau in Bali: Sie hat kurz geschnittenes Haar und trägt dazu immer balinesische Tracht. Man könnte auch sagen: Ritualkleidung als Arbeitsuniform. So vereint Made in ihrer Erscheinung Tradition und Moderne, die ideale Projektionsfläche für den westlichen Touristen.
Es ist heiß in Kalibukbuk, an meinem letzten Tag. Gefühlt der heißeste Tag seit ich in Bali bin. Ein fast durchgehend blauer Himmel, ein paar verstreute Cirren, mehr nicht. Auch der Dunst über den Bergen, der die Gipfel kaum verhüllt, sieht nicht nach Regen aus. Jetzt bin ich in Pemuteran, in Westbali. Kaum zwei Stunden mit dem Auto entfernt von Lovina, bei nachlassenden Verkehr, und imponierender Landschaft. Die Berge rücken immer näher ans Meer, bis die Landstraße an der Pura Pulaki unter dem Überhang einer Steilwand entlang führt. Auf der anderen Seite, vielleicht dreißig Meter entfernt, brechen flache Wellen am Strand. Ein Blick nach Westen, und ich sehe die Berge Ostjawas. Das Dorf, ein Straßendorf, verschwindet im Grün, wie eine Kurpromenade. Läden, Warungs und Werkstätten, nicht dicht gedrängt, sondern in lockerer Anordnung. Auf beiden Seiten der Straße führen schmale, nicht asphaltierte, doch teilweise mit schmalen Platten ausgelegte Gassen in die Wohngebiete, wo auch die Homestays liegen; von Familien geführt. Zwischen dem Strand und der Landstraße nach Gilimanuk haben sich mehrere, luxuriöse Hotels, inmitten gepflegter Parklandschaften gelegen, sowie die Tauchclubs und Tauchschulen, angesiedelt. Tourismus einer gehobenen Kategorie. Man setzt sich ab von Lovina und Ubud. Ich wohne wieder im Schatten der Berge.
Es ist entspannend, auf der Veranda zu sitzen, mich in der drückenden Schwüle nicht zu bewegen, und hinaus in den Regen zu schauen. Den Hühnern zusehen, wie sie vom Regen unbeeindruckt, ihrem Tagesgeschäft nachgehen: der Futtersuche. Als ob sie mich inspirieren, mache ich mich noch vor Einbruch der Dunkelheit auf, und mache es ihnen nach. Ich suche im Regen nach einen Warung, während der Muezzin zum Abendgebet ruft.

Ich bin noch nicht mit dem Frühstück fertig, als Made, meine liebenswürdige Gastgeberin, mir schon das gestern versprochene Fahrrad bringt. Das Rad ist bereits in die Jahre gekommen, aber um mich in Pemuteran und Umgebung zu bewegen, reicht es. Die Leihräder in Bali waren einmal gut, aber man hält sie nicht in Ordnung. Fahrräder im Reparaturstau.
Pura Pulaki! Mit dem Rad ein Katzensprung. Links das Meer und rechts die Berge, deren Steilwände und Felsüberhänge bis an die Landstraße heranreichen. Diese erinnert mich an Landschaften am Mittelmeer, wo Meer und Land auf eine ähnliche Weise zusammenrücken.
Zuerst finde ich einen Höhlentempel: die Pura Goa Tirta Sunia. Nach oben in die Felswand führt steile Treppe hinauf. Hinter einer Galerie 
befindet der Höhleneingang, in dem ein gelb-weiß gewandeter Schrein steht. Das untere Ende der Treppe bewachen zwei farbig bemalte Naga, die den Besucher mit Glubschaugen und gezückten Reißzähnen erschrecken. Das dem Meer zugewandte Ensemble der Schreine an der Basis des Tempels, gleich neben der Landstraße, glänzt in goldener Bemalung. Eine Jahreszahl am Sockel der Umfassungsmauer nennt das Jahr 2009. Am Schrein, oben im Höhleneingang, findet gerade eine Zeremonie statt. Die Gebete kann ich von unten hören, wo ich mit dem Fahrrad stehe und nach oben schaue. Den Besuch des Tempels spare ich für einen anderen Tag auf.

Die Pura Pulaki in Banyupoh, nur anderthalb Kilometer östlich von Pemuteran gelegen, gehört zu den bedeutendsten Heiligtümern der Insel. Ein Küstentempel, dessen Gründung, wie viele andere große Tempel in Bali, dem shivaitischen Priester Dang Hyang Nirartha zugeschrieben wird. Nirartha war einer der zahlreichen Mitglieder des javanischen Hochadels des hinduistischen Königreichs von Majapahit, das 1489 unter dem Ansturm des Islams allmählich zusammenbrach. Er muss wohl irgendwann Ende des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts nach Bali gekommen sein. In dieser Zeit erlebte Bali unter der Regentschaft von Sri Dalem Waturenggong (1460 – 1550), dem vierten König javanischer Abstammung, inneren Frieden, Sicherheit und administrative Ordnung. Nirartha, ein bedeutender geistiger Führer der sivaitischen Lehre, war damals Purohita, oberster Priester des Königreichs Gelgel, und hatte großen Einfluss auf die Staatsführung und religiöse Entwicklung. Nirartha brachte einen modernisierten Hinduismus, neue Kenntnisse der hinduistischen Lehre und religiöse Schriften aus Java mit nach Bali. Er reformierte die zeremonielle Ordnung zahlreicher religiöser Institutionen und die Tempelarchitektur. Wer den Vergleich nicht scheut, darf bei dieser Persönlichkeit durchaus an Martin Luther denken. 
Um die Bedeutung Nirarthas für den balinesischen Hinduismus, die Agama Hindu Bali oder Agama Tirtha, zu schildern, zwei besonders wichtige Innovationen seiner Reformen. Nirartha erweiterte die horizontale Lehre der Trimuti, der Dreifaltigkeit von Schöpfung (Brahma), Erhaltung (Wisnu) und Zerstörung (Shiva), um einen vertikalen Aspekt. Er führte nämlich die Vorstellung ein, dass der Kosmos eine vertikale Achse besitzt, an der Spitze die Götter, in der Mitte die säkulare Welt der Menschen und am unteren Ende der Achse die Dämonen als eine ins Negative gewendete Reflexion der imaginären Welt der Götter - den dreigeteilten Kosmos. Inspirierend für diese Achse ist der Lingga, Shivas erigierter Phallus, der in dieser kosmischen Konstruktion das Zentrum bildete, oben und unten als das Positive und Negative in sich vereint: Keimzelle und Beweger des Universums. Gleichzeitig integrierte Nirartha die Ahnenverehrung in diese reformierte Lehre, bewahrte so ihre Bedeutung, und vereinte die zahlreichen religiösen Tendenzen seiner Zeit in einem umfassenden spirituellen und religiösen System.

Als Reformator und Kulturheros genießt Nirartha überall in Bali große Verehrung. Um seinen Namen ranken sich volkstümliche Legenden und Wunder, die besonders mit Tempelgründungen zusammenhängen, wie auch im Fall der Pura Pulaki:
Man erzählt sich nämlich, dass die Umgebung, die heute die Pura Pulaki beherrscht, einst von Unsichtbaren bevölkert wurde. In der Zeit, als Dang Hyang Nirartha nach Bali kam, wurde er von seiner Familie getrennt. Auf der Suche nach seiner Tochter, Dewi Sabawa, erfuhr er, dass sie von einem Mann aus Pegametan entführt wurde. In Wut und Angst um seine Tochter verfluchte er das Dorf, sodass es zu Asche verbrannte. Seitdem geistern die heimatlos gewordenen Bewohner des Dorfes als Dämonen, Gamang, durch die Welt und zeigen sich gelegentlich in der Gestalt von menschlichen Affen oder Tigern. Seine Tochter erlöste Nirartha von ihrem weltlichen, geschändeten Körper und sie wurde zu Dewi Melanting, einer Göttin des Handels und Reichtums. Ihr zu Ehren wurde die Pura Pulaki errichtet, wo sie seitdem den Menschen ihren Segen spendet und Glück beschert.
Und wirklich, die Pura Pulaki bevölkert eine große Horde Makaken. Von ihnen heißt es auch, sie sind mit Nirartha aus Java gekommen. Anderswo gelten sie als Nachkommen Hanomans, des weißen Affen aus dem Ramayana. Die von Indien bis Bali in sehr vielen hinduistischen Tempel lebenden Affen führen in der Pura Pulaki ein sorgenfreies und unbeschwertes Leben. Ihre Population ist inzwischen Legion, und ihr Auftreten souverän und selbstbewusst. Sie fühlen sich als die wahren Herren des Tempels. Aggressiv habe ich sie nicht erlebt. Wie nebenbei haben sie mich wahrgenommen, großzügig meine Anwesenheit akzeptiert und mich sonst nicht weiter beachtet.

Die Pura Pulaki ist als Küstentempel dem Meer zugewandt, ein architektonisches Ensemble, mit dem Berg verschmolzen, reicht er bis nah ans Wasser. Ein Ordner, der auch die obligatorischen Spenden der ausländischen Besuchern entgegennimmt, wofür sie sich in ein Gästebuch eintragen dürfen, achtet darauf, dass sie nur korrekt bekleidet den Tempel betreten. Wer ihn nicht ohnehin dabei hat, dem wird ein Sarong ausgeliehen. Er hat mir nicht nur von Nirartha erzählt, sondern auch, dass die Pura Pulaki einer von fünf Tempeln ist, die von diesem „Heiligen“ gegründet wurden. Zwei weitere, wichtige Tempel, so mein Informant, sind die Pura Pabean, direkt gegenüber auf einem Felsen, der bis ins Meer reicht sowie die Pura Melanting, etwas entfernter in den Bergen.
Neben der Treppe, die durch ein gespaltenes Tor (Candi Bentar) hinauf in den Tempel führt, steht ein Schrein direkt an der Landstraße. Dieser Schrein Dewi Melanting gewidmet, den eine weiß gekleidete Priesterin betreut. Kurios ist, er ist von einem Käfig umgeben, weil davor die Affen auf Beute lauern.
Der Schrein ist gut besucht, und während ich auf einer Mauer am Meer sitze, und noch überlege, ob ich mich unter die so böse beleumundeten Affen mischen soll, halten immer wieder SUV, Motorräder und Scooter vor dem Schrein. Es sind immer Männer, die in den Käfig zum Schrein gehen, beten, opfern und mit einem Opferkörbchen (Banten) und geweihtem Wasser für ihre Fahrzeuge wieder herauskommen. Alles unter den wachsamen Blicken der Makaken, denen es aber nicht gelingt, den Käfig zu entern. Es berührt mich seltsam, die Affen auf der falschen Seite des Käfigs agieren zu sehen. Im Inneren der Pura sehe ich später, dass alle Balés und Schreine mit Käfigen vor den Affen geschützt sind. Ich muss an die weißen Reiher von Petulu denken, und stehe ein weiteres Mal fassungslos vor der Toleranz und stoischen Gelassenheit der Balinesen.
Viele der Vorbeifahrenden hupen mehrmals. Zuerst nehme ich an, das Hupen gilt den Affen, die gemächlich oder in wilder Jagd die Straßenseiten wechseln. Doch höre ich, dass die Fahrer die Göttin in der Hoffnung auf ihren glückverheißenden Segen grüßen.

Die Pura Pulaki besteht aus drei Ebenen: Von der Straße aus führt eine Treppe durch das gespaltene Tor zu einem höher gelegenen Hof mit mehreren Balés. Dieser äußere Hof dient bei den Zeremonien den vielfältigen Vorbereitungen. Eines der Pavillions beherbergt ein großes Gamelanorchester, dass mit roten Tüchern verhüllt ist. Natürlich in einem Schutzkäfig, denn auf dem Hof haben sich Makaken breit gemacht und pflegen ihr Familienleben. Überall laufen sie umher, spielt der Nachwuchs fangen, dösen die Alten im Schatten. Sie sitzen auf den Mauern und klettern in den Bäumen, lausen sich genüsslich gegenseitig oder sitzen auf den Köpfen der Statuen oder den Dächern der Gebäude.

Geschlossenes Tor in das Innere der Pura Pulaki
Bergwärts erhebt sich das geschlossene Tor mit seinen drei Eingängen von denen nur die beiden Seitentore geöffnet sind. Das große, mittlere Tor ist geschlossen und wird von zwei bunt bemalten und gekrönten Naga, Unterweltdrachen wenn man will, bewacht. Die Wächter der Seitentore, grimmig schauende, bewaffnete Raksasa, sind ebenfalls farbig bemalt. Das Tor in den inneren, sakralen Teil des Tempels wirkt in seiner Farbigkeit befremdlich, wie renoviert, im Vergleich mit der charakteristischen südbalinesischen Pura. Diese erscheint beinahe monochrom, rotbraune Ziegelbauten vor tropischem Grün. Die bemalten Statuen in den nordbalineschen Tempeln scheinen eine weitere Besonderheit zu sein, die Nord- und Südbali unterscheiden.
Den Aufgang zum inneren Bereich der Pura Pulaki bewachen nicht nur steinerne Wächter, sondern auch lebende Makaken, denen ich nicht über den Weg traue. Unglücklicher weise halten sie beide Treppen besetzt. Ich schleiche eine Weile am Fuß der Treppe umher, bis der Weg frei wird. Meine Unsicherheit scheint sich auf die Affen übertragen haben, die sich auf Statuen und Mauern zurückgezogen haben.
Im inneren Hof des Tempels, des sakralen Bereichs der Pura, dort wo die Rituale und Zeremonien stattfinden, sind die prächtigen, mit farbigen Holzschnitzereien dekorierten Schreine und Balés ebenfalls vergittert. Wieder kommen und gehen die Makaken wie es ihnen gefällt. Eine Wand aus grauem Stein verziert ein Relief. Es ist Nirartha, glaube ich, der die Hand hebt um zwei Fliehende zu verfluchen, während in seinem Rücken ein Drache sein riesiges Maul aufreißt. Fast kommt es mir vor, der Priester tritt aus dem Rachen der Bestie heraus. 
Menschen und Affen nutzen den Tempel in friedlicher Koexistenz. Die Makaken beachten die Balinesen, die gerade beten und opfern nicht, auch die Frau, die den Hof fegt, ist ihnen gleichgültig. Wer schreibt nur diese bösen Geschichten über die Affen in die Reiseführer?
Vom inneren Hof aus führen zwei gewundene Treppen hinauf auf den Berg, wo ich weitere Sitze und Schreine sehen kann, wo alte Bäume und Säulenkakteen wachsen, und eine bis zu mir spürbare, mystische Atmosphäre herrscht. Ob dieser Ort der ursprüngliche, erste Tempel war? Auch die Balinesen, die mit ihren Opfergaben in den Innenhof kommen, gehen nicht weiter, sondern beten und opfern im inneren Hof. An beiden Treppen der Hinweis: Don´t upstairs. Mit bleibt ein anziehender Teil der Pura Pulaki verschlossen, und die wahrscheinlich fantastische Aussicht auf die Bali See.  Für die Pura Pabean gegenüber fehlt mir das Kleingeld für die notwendige Spende.

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