Freitag, 27. Januar 2017

Im Tal des Sungai Ayung


Ich kann es noch nicht wirklich glauben, aber es hat seit fünf Tagen nicht mehr geregnet. Für Januar, den regenreichsten Monat, nicht schlecht. Noch vor einer Stunde zogen aus Südosten schwarze Regenwolken auf.
„Es wird gleich regnen“, sagten die Männer im Warung, wo ich ausgehungert mein spätes Mittagessen verschlang. Ich habe ihnen geglaubt, und mich schnell auf den Weg nach Pengosekan gemacht.
So kurz vor meiner Abreise nach Munduk wollte ich nicht durchnässt nach Hause kommen, denn wenn erst einmal ein kräftiger Regen fällt, trocknet meine Hose nicht mehr bis Morgen. Ich habe nur die eine. Aber es regnet nicht, die schwarzen Wolken ziehen über mich hinweg. Wieder einmal war eine improvisierte Wettervorhersage falsch. Doch der Tag ist noch nicht zu Ende. Das Tal des Sungai Ayung lockt, des Flusses, der die Grenze zwischen den beiden Landkreisen Gianyar, zu dem auch Ubud gehört, und Badung, im Westen, bildet. Zwischen den beiden Territorien verläuft gleichzeitig eine andere, unsichtbare Grenze: der Ubud-Tourismus endet am Sungai Ayung. Die Regionalregierung in Badung hat strengere Auflagen. Man hat dort erkannt, dass hemmungsloser Tourismus schließlich dazu führt, dass keine Touristen mehr kommen. In Badung steht der Schutz von Natur und Kultur über der kapitalistischen, profitorientierten Ausbeutung dessen, was Bali vor kaum hundert Jahren noch war und fast schon nicht mehr ist. Die Wanderung durch das Tal des Ayung stimmt den Schlussakkord meiner drei Wochen in Ubud an. Bis zu jetzt habe ich gezögert, an den Ayung zu gehen, und mich erst beim morgendlichen Cappuccino entschieden. Ich kann mir nicht erklären, was diese emotionale Ambivalenz ausgelöst hat. Es scheint eine Hassliebe zu Ubud entstanden zu sein. Fragmente der alten Faszination lauern noch in allen Ecken. Doch ich bin es leid geworden, schon wieder durch das touristische Ubud zu laufen, bis ich endlich da ankomme, wohin es mich zieht. Ich bin genervt und psychisch und mental erschöpft. Aber es wäre außerordentlich schade gewesen, wäre ich zu Hause geblieben, und nicht durch das Tal des Ayung gewandert.

Der Weg entlang des Sungai Wos war gegen den am Ayung unspektakulär. Der Unterschied zwischen den beiden Flusstälern ist so groß wie der zwischen einer einfachen Dorfkirche und dem Kunstdenkmal Kölner Dom. Ein gemächlicher Spaziergang am Wos einerseits, eine Wanderung durch den Miniatur-Dschungel des Ayung andererseits. Der Weg bis Sayan, wo einst Collin McPhee, der kanadische, gamelanversessene Musikwissenschaftler lebte, führt über stark befahrene Landstraßen. Colin McPhee, Ehemann von Jane Belo, Schülerin von Margaret Mead, der Grande Dame der Ethnologie, lebte von 1931 bis 1938 in Bali. Sein unübertroffenes Buch über diese Jahre, Mein Haus in Bali, von 1946, lohnt die Lektüre. Seine Erzählung bildet den notwendigen Kontrast zwischen traditionellen und modernem Bali. Sonst ist nur sehr schwer nachvollziehbar. was verloren gegangen ist. McPhees Buch schildert bei weitem nicht die Kultur der vor-kolonialen Epoche in der Geschichte Balis, aber es gibt nun einmal nichts Besseres. Das ist weder romantische Schwärmerei, noch unreflektierter Exotismus. Es ist bedauerlich, dass der balinesische Way Of Life vor dem global-nivellierenden Kapitalismus in die Knie geht.
Unmittelbar neben dem Sayan Terace Hotel geht es steil bergab zum Ayung hinunter. Im wahrsten Sinne des Wortes steil bergab, denn der Weg ist eine in den Felshang gehauene Treppe, über die ich höchst unregelmäßige Stufen nach unten klettern muss. Die nicht überall vorhandenen Felsstufen bilden noch den komfortabeln Teil des Wegs. Zwischen ihnen rutsche ich immer wieder über unbefestigten, glitschigen Erdboden, der unter meinen Tritten nachgibt. Der Pfad ist streckenweise grün überwuchert und kaum zu sehen. Mehrmals rutsche ich aus, und auf dem Hosenboden ein paar Meter weiter abwärts. Endlich unten angekommen, stehe ich vor einem Tor aus Bambuslatten, dass auf der anderen Seite mit einer blauen Plastikschnur verschlossen ist. Erst nach längerem Rufen kommt ein Mann und verlangt 100.000 IDR Wegezoll, ungefähr 7 €. Niemand, das weiß der pfiffige Bauer genau, wird sich nach diesem halsbrecherischen Abstieg weigern, zu bezahlen, wenn erst einmal der Abstieg bewältigt ist. Ich habe nicht das Verlangen, über diesen abschüssigen Trampelpfad zurück nach oben zu klettern, und reiche dem Wegelagerer den verlangten Betrag durch das Gatter. Er löst die blaue Schnur, und Sesam öffne dich, stehe ich am Ufer des Sungai Ayung, der in einer breiten, flachen Schleife an mir vorbeifließt. Der Fluss ist kaum fünf Meter breit. Er führt nur mäßig Wasser. Der Torwächter, barfuß und mit lehmverschmiertem T-Shirt und kurzer Hose nur dürftig bekleidet, hat inzwischen Feierabend gemacht und watet knietief auf das andere Ufer zu. Er hat seine Tageseinnahme gemacht. Noch vor ein paar Tagen, wirft mir der Türsteher im Vorbeigehen zu, hat es in den Bergen so heftig geregnet, dass eine Sturzflut den Ayung hinabschoss. Das Treibholz, das der Fluss mit sich führte, sowie die entwurzelten Bäume, liegen bereits ordentlich aufeinander geschichtet auf beiden Uferböschungen. Mein Weg auf dem Ostufer verläuft unmittelbar neben dem Fluss, auf dem noch feuchtem Sand, anthrazitschwarz und vulkanischen Ursprungs. In unvorstellbarer Dauer hat sich der Fluss sein Bett durch steil aufragende Felswände gegraben. In engen Windungen hüpft er nun gurgelnd und sprudelnd über Steine. Er schlängelt sich um große Findlinge, die er in seiner Wut selbst aus den Bergen ins Tal gespült hat. Überall liegen sie nun in seinem Bett und behindern seinen freien Fluss. In lebhafter Zwiesprache rauscht und plätschert das Wasser mit den Hindernissen, die es umspült, und plaudert über seine ewige Wiederkehr.
Auf den Reisterrassen, die sich zwischen die Felsen drängen, wächst jetzt Mais, wo noch eben Reis im schlammigen Wasser reifte. So wird der Boden unterschiedlich beansprucht und laugt durch Monokultur nicht aus. Auf anderen Terrassen liegt das verbrannte Stroh der letzten Ernte. Eine Wanderung durch das Tal des Sungai Ayung ähnelt atmosphärisch einer kurzen Dschungelwanderung, ohne hohe Beanspruchung an Navigation oder Kondition.

Der Weg führt ständig am Ufer des Flusses entlang. Der schmale Trampelpfad steigt immer wieder auf den Hang oberhalb des Flusses, sodass mein Blick durch das Flusstal hinüber nach Badung schweift. Dann geht es wieder hinab an den Fluss, um einige hundert Meter erneut wieder nach oben zu klettern. In dem Wald, der auf beiden Seiten bis an den Fluss wächst, stehen Kokospalmen, Waringinbäume und unterschiedliche Fruchtbäume: Nangka, Guave oder Durian. Am Boden wachsen Ananas- und Bananenstauden, Tapiokarhizome hat das letzte Hochwasser freigespült. Die meisten Pflanzen und Bäume unter deren grünen Schatten ich zum Rauschen des Flusses wandere, kenne ich nicht. Das Blätterdach über mir ist dicht und sperrt die Sonne aus. Nach Westen hin öffnet sich das Flusstal mit schmalen Ufer an beiden Seiten, wo in einer Bucht unter der hängenden Krone eines mächtigen Waringins zwei Yogis ihre Übungen zelebrieren. Wo die Bäume abgeholzt sind, und es zu steil für ein Reisfeld ist, hat marodierendes Alang-Alang die Hänge erobert. Ich sitze lange am Ufer des Ayung und lausche dem murmelnden und flüsternden Dialog des Flusses mit den Steinen. Aller Stress und jede Unruhe, die Ubud in mir verursacht, nimmt das Wasser mit nach Süden ins Meer. Abgeschieden, in meditativer Ruhe, sitze ich aus der Zeit gefallen am Ufer des Ayung, während meine Gedanken im Rhythmus des Flusses fließen. Auch dieser Moment verfließt, vergeht, und ich steige eine Böschung hinauf auf einen Damm, mit dem die regionale Subak dem Ayung sein Wasser in einem breiten Kanal abzweigt, das zwischen den kunstvoll gemauerten Ufern fließt und ihre Felder bewässert. Das Wasser wird durch ein weit verzweigtes Bewässerungssystem geleitet, bis es irgendwann wieder zurück in den Ayung fließt.

Während ich noch auf der Mauer sitze, kommen die ersten Schlauchboote den Fluss hinab. Rafting auf dem Ayun, eine Attraktion für die Touristen in Ubud. Ich stehe auf einem Felssporn, hoch über dem Fluss, und schaue mir das Spektakel an: Ein Führer im Heck der Boote sorgt dafür, das die Fahrgäste sicher durch die eher harmlosen Stromschnellen gerudert werden. Der Ayung präsentiert sich mir an diesem Tag nicht anspruchsvoll. Von Wildwasser, wie die Plakatwerbung suggeriert, kann nicht die Rede sein. Kein Bug bricht klatschend durch eine Welle, die zu beiden Seiten in weißer Gicht schäumend zerstiebt. Trotzdem sind die Bootsinsassen, sicherheitshalber, mit Helm und Rettungsweste ausgestattet, in einem Fluss, in dem man überall stehen kann. Mich erfasst unsagbare Heiterkeit. Ich lache mit den Fluss in den Wind.
Tal des Sungai Ayung

Ein paar hundert Meter später stehe ich am Fuß einer steil nach oben führenden Treppe, auf der die ersten Souvernirhändler sitzen und mir Holzplastiken aus edlem Tropenholz – Mahagoni behaupten sie – sowie schreiend bunt gemusterte Shorts anbieten. Das andere Ende der Treppe mündet in Kedewatan, auf die Hauptstraße. Es ist ein weiter Weg zurück nach Pengosekan, und ich hoffe auf eine Abzweigung, die mich vor der Landstraße rettet. Unter einem bescheidenen Pavillon bietet ein junger Mann frische, grüne Kokosnüsse feil, gleich gegenüber einen mondänen Restaurant vor dem mehrere Touristenbusse parken. Ich setze mich in den Schatten auf eine Steinmauer und lösche Durst und Hunger. Der Verkäufer reicht mir eine Nuss, in die er ein kleines Loch gebohrt hat, in dem ein Strohhalm aus Plastik steckt. Ich gebe ihm die Nuss zurück, und bitte ihn, sie richtig für mich zu öffnen, und mir einen Löffel zu geben. Es ist der Kode, an dem er mich als Eingeweihten erkennt. Das hellweiße, glibberige, noch ungehärtete Fruchtfleisch stellt den köstlichsten Teil der Nuss dar, das ich genüsslich löffele. Eine trockene, braune Kokosnuss, wie sie in Deutschland oft zu Weihnachten auftauchen,  die mühsam mit dem Hammer geöffnet werden muss, nur um an den kleinen Schluck Kokosmilch und das harte Fleisch zu kommen, nimmt im ganzen Archipel niemand ernst. Hier nennt man das getrocknete Kernfleisch der Kokosnüsse Kopra, der Rohstoff, aus dem Kokosöl gewonnen wird. Der Name kommt aus dem Malaiischen und bedeutet nichts weiter als getrocknete Kokosnuss.

Müde und verschwitzt bin ich am frühen Nachmittag wieder in Campuan. Unerwartet stehe ich am Fuß der alten Steintreppe nach Penestanan, einst der einzige Weg in das Dorf. Ich folge einem Impuls und steige die Stufen hinauf. Aus dem ehemaligen Handwerker- und Künstlerdorf mitten in den Reisfeldern, wie noch Anfang der achtziger Jahre, ist eine luxuriöse Villengegend mit der Atmosphäre eines mondänen Kurorts geworden. Der Weg schlängelt sich bergauf und bergab, schattig und friedlich, an den Hotels und Restaurants vorbei. Ich schlendere den friedlich mäandernden Weg entlang, und erinnere mich an den Lauf des Sungai Ayung. Auch in der vom Menschen gebändigten und dekorierten Natur ist es schön. Ich gehe gerne durch diesen so veränderten Ort, der immer noch etwas von dem Frieden und Harmonie ausatmet, weshalb ich Bali so liebe. Kurz darauf reißt mich die nächste Landstraße mit ihren disharmonischen Motorengeräuschen aus meiner Schwärmerei. Auf einer verkehrsreichen Asphaltstraße gehe ich zurück nach Campuan. Wo die Brücke über den Sungai Cerik führt, beginnt das touristische Campuan. Die alte, hölzerne Hängebrücke, die an einer eisernen Konstruktion hängt, hat einen Zwilling bekommen. Während die Fußgänger über die alte Brücke auf die andere Seite gehen, zwängen sich Scooter und Autos, nur einen Steinwurf entfernt, über die Brücke aus der neuen Zeit. Auf einer feuchten, bemoosten Bank, die seitlich auf der Hängebrücke auf Rastende wartet, beende ich meine Wanderung mit einem angeregten Verkaufsgespräch. Ein Händler, der zuerst versucht, mir eine Mahagoni-Maske zu verkaufen, akzeptiert schließlich, dass ich solche Andenken nicht kaufen will. Versöhnt unterhalten wir uns über unsere verschiedenen Welten. Seit drei Stunden ist es dunkel. Geheimnisvolle Geräusche rollen durch die Nacht, von denen ich die meisten nicht kenne. Insekten, Geckos, vielleicht auch nur das Raunen des Windes. Vom Nachbars Hof kläfft Hundegebell herüber. Geregnet hat es nicht.

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