Samstag, 28. Januar 2017

Dorf der weißen Reiher


Ich fahre die Straße immer weiter bergab. Das Radeln wird zum Genuss. Ich kühle ab, mein Hemd trocknet, und ich lasse mich durch die Landschaft treiben. Plötzlich biege ich um eine Kurve und bin in Petulu. Bevor ich den ersten Reiher sehe, höre ich ihr Trompeten und Gekreische. Der Geruch von Vogelkot schwängert die Luft über dem Dorf. Ammoniakdünste ziehen mir stechend in die Nase. Vor mir liegt eine lange, geradeaus abwärts führende Dorfstraße durch das Straßendorf Petulu. Auf beiden Seiten der Straße reihen sich traditionelle, ummauerte Gehöfte aneinander, die nur über eine Treppe und durch ein schmales Tor erreichbar sind. Viele von ihnen besitzen noch eine Geistermauer, die die Sicht ins Innere versperrt, und die Geister zwingt, um die Ecke zu gehen, was sie nicht können. Die Bewohner befinden sich in Sicherheit. Die Ränder der Straße säumen verschiedene, große und kleine Bäume. Rund um jeden Baum breitet sich ein halbrunder, vor Vogelkot starrender, weißer Fleck aus. Und während ich die Dorfstraße hinabfahre, klatscht es neben und hinter mir auf den Asphalt.

Reiherkolonie in Petulu

Alle Bäume sind voll besetzt mit Reihern. In ihren relativ kleinen Nestern krakelen die Jungvögel laut nach Futter. In den Zweigen über mir herrscht ein chaotisches Tohuwabou.
Im Dorf leben zwei verschiedene Reiherarten: einer besitzt rein weißes Gefieder, dem anderen läuft ein rotbrauner Streifen vom Hals über den Rücken und zwischen die Schwingen. Ob das verschieden gefärbte Gefieder eine geschlechtliche Differenzierung darstellt – ich weiß es nicht. In Größe und Gestalt ähnelt dieser Vogel unserem Graureiher. Wie dieser Vogel zieht auch der Petulu-Reiher beim Flug den Hals ein, steht wie dieser mit hoch gerecktem Hals im Feld. Während ich staunend am Straßenrand stehe, und den überall herumlungern Reihern zu schaue, gehen die Dorfbewohner unbeeindruckt ihren alltäglichen Aktivitäten nach. Sie sind an die Vögel um sich herum gewöhnt. Die Kolonie muss es seit Generationen geben. Doch auf mich wirkt die permanente Präsenz der Reiher absonderlich. Reiher, zu Dutzenden in den Bäumen, Reiher, im Ab- und Anflug, Reiher, die auf den Dächern und Oberleitungen hocken, Reiher, auf der Straße, im Straßengraben und Reiher in den Feldern. Und dazwischen taumeln unbeholfen die noch nicht flugfähigen Jungvögel, und watscheln tolpatschig über die Straße. Die Dorfbewohner sind davon überzeugt, dass in diesen Reihern die Seelen der dem Militärputsch und antikommunistischen Massaker Suhartos von 1965 zum Opfer gefallenen Kommunisten und Atheisten weiterleben. Alle sechs Monate findet zu ihren Ehren eine Zeremonie statt.

Jeder Reiseführer empfiehlt, Petulu bei Sonnenuntergang zu besuchen, denn dann kommen alle Reiher der Kolonie hierher, um die Nacht in den Bäumen zu verbringen. Heute Mittag war ich der einzige Besucher, und habe hunderte Reiher gesehen. Welches Chaos mag am Spätnachmittag in dieser Straße herrschen, wenn sich Reiher und Touristen gleichzeitig zu diesem Spektakel einfinden. Unter einem Schirm zu stehen, wäre sicher nicht verkehrt. Hitchcock lässt grüßen.

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