Donnerstag, 19. Januar 2017

Ein Sitz für Geister


Ich gewöhne mir an, am frühen Nachmittag, zwischen 14 und 15 Uhr, zurück im Homestay zu sein. Wenn der Tag nicht gleich mit Regen beginnt. Den Rhythmus meiner letzten Tage in Munduk bestimmt das Wetter, das in der vergangenen Woche höchst zuverlässig seine täglichen Wassermengen in den Bergen abgeladen hat. Meine Wanderungen im Bergwald werden dadurch zu einem Glücksspiel mit dem Monsun. Ich bin nicht daran interessiert, und halte es auch nicht für abenteuerlich, von einem heftigen Tropenregen am Hang im Wald überrascht zu werden, wenn sich der Weg in einen abwärts stürzenden Fluss verwandelt, der allerlei mit sich führt. Meistens eine gute Entscheidung, denn die Nachmittagsstunden gehören in Munduk der Regenzeit.
An einem halben Tag mache ich keine weiten Wanderungen, allenfalls einen Spaziergang. Viel Neues oder Interessantes ist mir auf diesen kleinen Ausflügen nicht mehr begegnet, aber es sind die Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten, die ich spannend finde. Das von Bergen (Gunung Batukaru, 2276 m; Gunung Sangayang, 2093 m;  Gunung Tapak, 1905; Gunung Lesung, 1860 m) eingeschlossene Tal, in dem Munduk liegt, bietet dem Fußgänger, dessen Reichweite begrenzt ist, keine große Abwechselung. Die Wege führen in kurzen Distanzen auf und ab, bieten dafür aber spektakuläre Ausblicke in das Tal, auf einsame Gehöfte, die versteckt im Bergwald liegen, auf kleine Siedlungen, die sich an den Hängen entlang ziehen, und die mehrere Gehöfte zusammenfassen; auf 
im abschüssigen Gelände terrassenförmig angelegte Sawahs, zwischen denen Kokospalmen, Papayabäume und Bananenstauden wachsen.

Die Menschen in den Bergen führen ein bescheidenes Leben. Sie sind Bauern, pflanzen Reis an und kultivieren Gärten, deren Produkte sie an die Geschäfte oder auf dem Markt verkaufen. Manche besitzen selbst einen Läden an der Straße, mit all den Dingen des täglichen Bedarfs, oder sie arbeiten als Bauarbeiter in den überall im Tal entstehenden Hotels. Und sie warten auf mehr Touristen, von denen sie sich erhoffen, dass mit ihrer Ankunft ihr Lebensstandard steigt, dass neue Arbeitsplätze in einer prosperierenden Branche entstehen. Aber noch sind sie offen und neugierig, an mir und an allem, was ich zu erzählen habe, interessiert und immer zu einer Unterhaltung aufgelegt. Noch sehen sie im Touristen den Gast und Besucher, die Person, nicht den Wirtschaftsfaktor.

Tempel, Pura, so zahlreich wie in Südbali, wo man ihnen in kurzen Abständen begegnet, gibt es hier anscheinend nicht. In Munduk bin ich auf meinen Wanderungen an keinem einzigen vorbeigekommen – keine Pura Desa, keine Pura Puseh, eine kleine Pura Dalem am südlichen Dorfende. Eine Pura Desa, die ich nicht gefunden habe, soll es fünf Kilometer außerhalb des Dorfes geben. Ungewöhnlich! Dafür hat Munduk einen kleinen, Shiva geweihten Tempel, den Parahyangan Shiwa Lingga (Pura Umum), mit farbiger Ganesha-Statue und einem außergewöhnlichen Siwa-Lingga, seinen Leben spendenden Phallus. Der Lingga ist eine schwarze, am oberen Ende runde Säule mit einem weißen Symbol, dass wie ein stilisiertes Auge aussieht. Leider ist der öffentliche Tempel (Pura Umum) verschlossen.
Der Wassertempel am Danau Tamblingan war der einzige beeindruckende Tempel, den ich in dieser Woche gesehen habe, merkwürdig für eine Insel mit dem Epitheton „. . . der 1000 Tempel“. Rund um den See, erzählt mir ein Mann, der mich am Seeufer anspricht, gibt es sechs weitere Tempel, die gemeinsam ein Netzwerk bilden. Wenn es der Regen zulässt, mache ich mich morgen doch noch auf die Suche nach den anderen beiden Tempeln in Munduk. Aber ich werde fragen müssen!

In den wenigsten Gehöften, an denen ich vorbeikomme, oder in die ich hineinsehen kann, gibt es einen Familien- oder Haustempel (Sanggah), und wenn doch, sind sie klein, mit wenigen Schreinen. Viele sind noch neu. An den meisten Eingängen ins Gehöft steht ein steinerner Göttersitz, ein Pelinggih, auf dem die Banten-Opferkörbchen für die himmlichen Mächte dargebracht werden, hilfreiche und unterstützende Energien, von denen die Menschen wissen, dass sie um sie herum anwesend sind. Eine animistische Überzeugung im balinesischen Hinduismus, sehr archaisch, doch sehr präsent. Sie erinnern in einem Zeitalter des Materialismus an die Lebendigkeit, eigentlich müsste ich sagen, Beseeltheit der Natur, wäre dieser Begriff aus westlich aufgeklärter Perspektive nicht inzwischen so problematisch geworden. Diese Sitze, wie kleine Thronsessel gestaltet, bestehen aus einer zylindrischen Steinsäule, auf der sich oben, in 1,50 Meter Höhe, eine Art Sessel mit Rückenlehne und zwei Armstützen befindet. Auf dieser Sitzfläche deponieren die Frauen ihre Opfergaben: Reis, Süßigkeiten, Obst, immer Blüten und ein angezündetes Räucherstäbchen, dessen Duft welche Macht auch immer zur Mahlzeit einlädt.

Göttersitz (sanggah) in Norbali

In den Reisfeldern gehe ich an einem temporären Göttersitz vorbei, einem Gestell aus Bambus, die Sitzfläche aus getrockneten, geflochtenen Palmblattstreifen, der gerade erst errichtet wurde, und auf dem sich Opfergaben türmen. Ein Sitz für Dewi Sri, die Reisgöttin, in einem neu bepflanzten Sawah. An der Brücke über den Fluss, im Schatten eines Waringinbaums und unter üppigem Pflanzenwuchs fast verborgen, ein anderer Sitz, aus schwarzem Stein, an einem gefährlichen Übergang. Dämonische Mächte, die den Passanten auflauern, um ihnen zu schaden, müssen an diesem Ort gebannt werden.

Solche Göttersitze stehen nicht nur an Hauseingängen, sondern auch an Kreuzungen, Brücken, am Feldrand oder am Ufer von Flüssen, überall dort, wo eine Passage potentiell gefährlich ist, an Übergängen, wo sich die Sphären kreuzen und füreinander durchlässig werden, die ungesichert bösen Mächten leichtes Spiel machen. Aber die meisten Sitze die ich sehe, sind vernachlässigt, frische Opfergaben selten.
Die Hunde, die gemeinsam mit der spirituellen Präsenz der Pelinggih die Hofeingänge bewachen, sind verständig, und lassen mich weitgehend ungeschoren. Eine Ankündigung der Regionalverwaltung fordert von den Bürgern von Munduk, ihre Hunde zu betreuen,  diese anzubinden oder im Stall zu halten, weil es sonst vorkommen kann, dass sie getötet werden  da man sie für wild hält. Und überdeutlich, in roten Großbuchstaben, worum es geht: Achtung, anjing liar, wilder Hund).Die vielen halbwilden, streunenden und verwahrlosten Hunde, die von den Bewohnern der Gehöfte, die sie bewachen, nicht wirklich gepflegt und ernährt werden, und die sich zu Rudeln zusammenrotten, machen Tollwut in Bali zu einem Problem.

Überall am Wegesrand plätschert es leise, rauscht laut oder tost dröhnend den Hang hinab, fließt Wasser durch Gräben, sorgfältig angelegte Kanäle und Tunnel, zwischen den Dämmen und unter Brücken durch, mündet an einer Stelle in einen der Flüsse oder verlässt ihn gerade wieder, oder stürzt sich mit lautem Tosen als Wasserfall den Berg hinunter ins Tal. Welch ein Reichtum, welch ein Überfluss an Wasser, einmal wild, das nächste Mal durch menschliches Können gebändigt und kontrolliert, das in einem ewigen Kreislauf durch die Felder fließt.
Ich raste auf einer Plattform, die über den Hang hinausragt, und schaue weit über das Tal, bis hinüber auf die anderen Berge, deren Hänge ebenfalls mit Wald bedeckt sind. Die Reisterrassen bilden, genau wie die Siedlungen der Menschen, kein zusammenhängendes Ganzes. Zwischen die Bäume des Waldes hat man Lichtungen gerodet, sie terrassiert und auf den Stufen Reisfelder angelegt, und durch diese kunstvoll das Wasser, das aus den Bergen fließt, geleitet.

Seit kurz vor drei bin ich wieder zuhause. Es gibt in Munduk ein kleines Restaurant, dass einem älteren Ehepaar gehört, und das den Namen Warung Classic führt. Um in das Restaurant zu kommen, muss ich durch ein chinesisch anmutendes Tor und über zwanzig unregelmäßige Stufen hinabgehen. Der Warung Classic ist schon etwas Besonderes, denn er ist eine wellbech-überdachte Terrasse mit Blick auf die Kette der vier Berggipfel, die über Munduk aufragen. Die Besitzerin ist eine ausgezeichnete Köchin, die die besten balinesischen Gerichte auftischt, die ich bisher gegessen habe: Nasi Goreng, Nasi Campur, Urap Bali. Und für mich alles vegetarisch. Als ihr Mann bei meinem ersten Besuch hört, ich bin aus Deutschland, kommt er gleich mit einer Flasche Bier an meinen Tisch. Das alte, ethnische Vorurteil ist nun auch im fernen Munduk angekommen. Im Warung Classic zu essen, ist für mich inzwischen wie zu Hause essen. Unschlagbar!
Obwohl dicke, schwarze Wolken über Munduk ziehen, in denen die Berggipfel verschwunden sind, lässt der Regen auf sich warten. Ob das daran liegt, dass es letzte Nacht lange geregnet hat.

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