Samstag, 21. Januar 2017

Agama Tirtha


Ich genieße die Ruhe und entspannte Gelassenheit in Munduk. Die Atmosphäre bildet einen wohltuenden Kontrast. Die Natur hat sich durchgesetzt, und die Urbanität der letzten Wochen auf die Plätze verwiesen. Die hektischen Wochen im Süden verlieren sich in der Erinnerung. Ich vertrödele den Vormittag. Die Tage, die Stunden und die genaue Uhrzeit sind bedeutungslos geworden. Eine ganze Woche hat es die Regenzeit gut mit mir gemeint: es hat kein einziges Mal geregnet. Noch beim Frühstück sieht es nach dem nächsten trockenen Tag aus. Nun regnet es seit zwei Stunden. Mein Spaziergang, den ich heute morgen geplant habe, fließt gerade den Weg hinunter. Zwei Stunden starker Regen hat die Straße vor Edy’s Homestay in einen schnell abwärts strömenden Bach verwandelt. Alles um mich herum ist in einen grauen Schleier aus Wasser gehüllt. Es gießt in Strömen, es plätschert und platscht, es trommelt auf die Wellblechdächer, das Wasser klatscht auf den Boden und in die Pfützen, es tropft und tröpfelt von den Dächern, von den Blättern, es rauscht leise und schwillt an wie ein zorniges Grollen. Schon geht der nächste Schauer nieder. Über den Himmel ziehen dicke, dunkelgraue Wolkenpakete, die das Licht dimmen. Hinter den Berggipfeln verschwinden sie nach Irgendwo. Niemand ist draußen, und die Geräusche der täglichen Aktivitäten sind im Regen ertrunken. Während ich noch schreibe, fahren die ersten Autos schon wieder hupend den Weg hinunter der eben noch ein Bach war. Es regnet weiter, weniger heftig. Der Regen rauscht wie ein Fluss, der über eine Stromschnelle stürzt, aber die Wassermassen, die die Wolken eben auf die Erde schütteten, mäßigen sich inzwischen. Der Himmel ist noch immer dunkelgrau und die Wolken tragen schwer. Es wird noch weiter regnen. Ich bin in unablässigem Strömen gefangen. Alles ist Wasser, und das Wasser macht Bali.

Nassreisterrassen 

Ich glaube, es war niederländische Balikenner Christiaan Hooykaas, der von der balinesischen Religion als einer Agama Tirtha sprach, einer Religion des heiligen Wassers, eine Bezeichnung, die der Bedeutung des Wassers in Bali gerecht wird. Wasser ist für eine Kultur, die seit Jahrhunderten vom Nassreisfeldbau mit seinem ausgeklügelten Bewässerungssystem abhängig ist, existenziell. Die Menge des Wasser hängt natürlich von den Niederschlagsmengen in der Regenzeit ab, die die Touristen ärgern, von den Balinesen aber begrüßt werden. In den Ritualen der Balinesen dient Wasser dazu, etwas in einen anderen Zustand zu überführen. Die Umwandlung der Essenz der deponierten Opfergaben begleitet versprühtes Wasser, sodass ihre Adressaten, die Götter und Geister des hinduistischen Pantheons, sie auch empfangen können. Wenn die Balinesin ihre Opfergaben an Eingänge und Wege, auf Kreuzungen oder an Flüsse legen, werden sie mit Wasser besprengt. Sie tun das mit der gleichen Absicht, mit der ein christlicher Priester Brot und Wein für die Eucharistie verwandelt. In Bali ist das Wasser ein Mittel der Transsubstantiation, der Wesensverwandlung, des Einen in ein Anderes.
Wasser ist aber ein Produktionsmittel, eine wichtige Ressource, auf die Landwirtschaft und Ernährung angewiesen ist. Unterhalten und kontrolliert wird das zu einem bestimmten Gebiet gehörende Wasser von speziellen Genossenschaften, der Subak, die auch für eine gleichmäßige und gerechte Verteilung des Wassers auf die Sawah, die Reisfeldterrassen ihrer Mitglieder, sorgt. Jeder, der in Bali Reisfelder kultiviert, gehört einer Subak an, in der er Verantwortung für den ungehinderten Fluss des Wassers durch die zahlreichen Gräben, Tunnel und Kanäle übernimmt. Der Vorsitzende einer Subak, der Klian, wird durch die Vollversammlung aller Mitglieder nach Bedarf gewählt.
Wortwörtlich bedeutet Subak verbundenes Wasser. Das Subak-Bewässerungssystem führte 1022 ein königliches Edikt zur Bewässerung der Reisterrassen über Kanäle und Dämme ein. Die ersten Subak legte man an Quellen an, wo auch deren Schreine oder Tempel errichtet wurden. Die Wasserversorgung muss magisch und spirituell gefördert und gegen schädliche, auch magische Einflüsse, abgesichert werden. Möglicherweise stand einmal ein Waringinbaum an einer solchen Quelle oder wurde dorthin gepflanzt. Die Verbindung von Holz, dem harten, beständigen, und Wasser, dem weichen, fließenden, ist in den altindonesischen Kulturen alltäglich. In vielen indonesischen Kulturen dreht sich die indigene Religiosität um diese beiden Elemente. Wie die Agama Tirtha in Bali, ist auch die Religion der Atoin Meto in Westtimor eine von Wasser (Quelle) und Holz. Die Flüsse in Bali, die alle aus den Bergen in die Ebene fließen, waren zu Beginn wegen ihrer schweren Zugänglichkeit in tief eingeschnittenen Tälern nur bedingt für ein zuverlässiges Bewässerungssystem geeignet. Erst als zunehmend die technischen Kenntnisse und Mittel verfügbar waren um Tunnel und Dämme zu bauen, wurden auch die Flüsse in die Bewässerung der Sawahs einbezogen.

Die Subak mit ihrem übergeordneten Wassertempel ist keine Siedlungseinheit, sondern eine agrarökonomische Genossenschaft, zu der die Ländereien gehören, die von ihr gemeinsam bewässert werden. Die Grenzen zur benachbarten Subak werden durch den Wasserzulauf aus einer Quelle oder einem großen Kanal sowie den zugehörigen, bewässerten Flächen gezogen. Zu einer Siedlungsgemeinschaft, einem Banjar, können mehrere Subak gehören, sodass sich beide Organisationsstrukturen mehrfach überschneiden. Eine Subak kann aber auch Grundstücke in verschiedenen Banjar besitzen.
Die Subak ist eine demokratische und egalitäre Gemeinschaft, die den Bauern einen maximal ertragreichen Reisanbau ermöglicht. 2010 wurden fünf balinesische Reisterrassen mit ihren Wassertempeln in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen, eine Fläche von 19 520 Hektar. Darunter die Pura Taman Ayun und die touristische Sehenswürdigkeit der Reisterrassen von Jatiluwih im Kabupaten Tabanan. Das UNESCO-Weltkulturerbe „Kulturlandschaften in Bali“ erfüllt vier Aufnahmekriterien: Es stellt einen jahrhundertelangen Austausch menschlicher Werte bezüglich der Landschaftsgestaltung dar, ist einzigartiges Zeugnis für die kulturelle Tradition einer Zivilisation sowie für die Nutzung der Natur durch den Menschen. Überdies steht dieser besondere Reisanbau in einem direkten Zusammenhang mit einer aktiv gelebten Glaubensrichtung, dem ebenfalls einzigartigen, balinesischen Hindu Dharma.

Inzwischen hat es aufgehört zu regnen. Hellgraue Wolken, zwischen denen sich blaue Inseln geöffnet haben, ziehen in die Berge. Aus dem Bergwald steigt Nebel auf. Der Regen kehrt als feuchter Dampf zurück, der sich über das Tal ausbreitet. Oben in den Bergen hat er sich in vier großen Bergseen gesammelt, dem Wasserreservoir der Insel. Die vielen Bäche und Flüsse bringen ihn hinunter in die Ebene, wo er durch tausende Kanäle die Reisfelder bewässert.

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