Sonntag, 22. Januar 2017

Im Schatten des Gunung Lesung


Ich sitze auf dem Balkon und frühstücke, und schaue hinüber zum Gunung Batukaru. Dessen Gipfel ist auch heute wolkenverhangen. Seit ich in Munduk bin, wandern am frühen Nachmittag dunkelgraue und schwarze Regenwolken auf die fünf Gipfel zu, die meinen Blick in alle Richtungen begrenzen. Der Batukaru ist mit 2276 Metern der höchste Berg der Region, ein vor unendlich langen Zeiten erloschener Vulkan. Noch immer profitierten die Bauern von dem fruchtbaren Boden, den er hinterlassen hat. Die Regenzeit in Munduk unterscheidet sich von den berechenbaren Schauern in Pengosekan. In den Bergen regnet es nicht, es schüttet. Täglich mehrmals hintereinander. Dann treibt Wind die Wolken durchs Tal, und hinauf über die Berge. Plötzlich ist alles in undurchsichtiges Grau gehüllt, ein feiner Nebel aus Milliarden winzigen Wassertröpfchen, ein über die Landschaft gesprühter Dunst. Die Sicht beträgt kaum fünfhundert Meter. Dahinter verschwindet alles in den durchziehenden Wolken.
Gestern habe ich den ganzen Tag vertrödelt. Nachmittags sorgte der Regen dafür, dass ich nichts mehr unternehmen wollte. Zimmerarrest!

Heute bin ich früh morgens zu den Nassreisfeldern aufgebrochen. Meine Gastgeber haben mir gestern eine handgezeichnete Skizze in die Hand gedrückt, ohne Maßstab oder andere Angaben, einfach so, aus dem Gefühl aufs Papier gekritzelt. Aber andere Orientierungshilfen gibt es nicht, und mündliche Wegbeschreibungen sind vage. Mir bleibt nichts anderes übrig, als einfach los zu gehen, was noch nie eine falsche Entscheidung war. Irgendetwas gibt es immer zu sehen und zu erleben, meistens nicht immer das, was ich geplant habe.
Ich wandere auf einer ansteigenden, schmalen asphaltierten Straße im Schatten des 1860 Meter hohen Gunung Lesung, an einem Hang entlang, der unterhalb des Bergs nach Osten führt. Der leicht abschüssige Weg zu den Sawahs biegt gleich oberhalb von Edy´s nach Südwesten ab. Ich nehme an, dass es hinunter zum Fluss geht, der neben dem Homestay den Hang hinabstürzt, und dass dort die Felder beginnen. Der Fluss begleitet mich hunderte Metern weit neben der Straße, und fließt am tiefsten Punkt unter ihr hindurch. Die Brücke quert den Fluss an einem schattigen, feuchten Ort. Es riecht modrig und das dichte Laub mächtiger Bäume sperrt das Licht aus. Neben der Straße hat man der Vegetation einen kleinen Platz abgerungen, in dessen Ecke ein vereinsamter Göttersitz steht. Nichts spricht dafür, dass jemand kürzlich Opferkörbchen deponiert hat. An diesem potentiell gefährlichen Ort, einem Übergang, halten ich bevorzugt Geister und Dämonen auf, um den Vorübergehenden zu schaden. Wenn der düstere Raum um die Brücke auch nicht wirklich unheimlich wirkt, lädt mich nichts ein, zu bleiben. Ich weiß nicht, ob Dämonen gelernt haben, mich von den Balinesen zu unterscheiden, den die Konflikte, die sie mit der anderen Welt haben, gehen mich nichts an. Jenseits der Brücke wird es wieder heller, der Weg schwenkt nach Westen ab und steigt immer höher hinauf in die Berge.

Ich habe die Reisfelder gefunden, aber erst, nachdem ich über eine Stunde der Bergstraße hinauf gefolgt bin. Die Aussicht über die ausgedehnten Terrassen, in denen die jungen, hellgrünen Halme der Reispflanzen eben erst die Wasseroberfläche durchbrochen haben, wäre atemberaubend gewesen, hätten sich nicht im Tal bereits die ersten Regenwolken gesammelt. Wieder ist die Landschaft in einen durchsichtigen Schleier gehüllt, ein Blick, leicht verschwommen, wie durch eine Gardine. Doch die Reisfelder lohnen die Mühe des Aufstiegs. Sie wurden gerade neu bepflanzt, auf beiden Seiten der schmalen Straße auf stufenförmig abwärts führenden Terrassen. Die Felder sind geflutet, und die jungen Reissetzlinge stehen noch schief im Wasser; mir scheint, sie haben noch nicht richtig Fuß gefasst. Zwischen den Sawahs plätschert schnelles Wasser in den Bewässerungsgräben, während ich auf den schmalen Dämmen durch die Felder balanciere. Weiter unten arbeiten Männer. Fast knietief stehen sie im trüben Wasser, ihre Hose hochgekrempelt oder den Sarong gerafft, in ihrer Hand ein Bündel Setzlinge. Mit rhythmischen, fließenden Bewegungen drücken sie diese gekonnt unter Wasser in den Schlamm. Zwischen den Terrassen stehen ein paar saisonale Hütten, vor denen Wäsche auf der Leine in der Sonne trocknet. Dazwischen temporäre Schreine für Dewi Sri, aus Bambus und Palmblattstreifen gefertigt und mit Opfern aus Blüten und Reisgebäck überfüllt. Verstreut wachsen Kokospalmen und Bananenstauden.
Unglaublich, ich treffe keinen anderen Wanderer, nur Einheimische, die mit ihrem Scooter oder zu Fuß unterwegs sind. Neugierige Blicke laden zu einem Schwatz ein, für den sich jeder Zeit nimmt, um mit ein paar Neuigkeiten beschenkt seines Wegs zu ziehen. Über die Mauer eines Schulhof verfolgen mich die lustigen Kommentare der Schüler, deren Lachen sich über meine Anwesenheit freut. Es ist gut, dass die meisten Balireisenden den ausgetretenen und vorgegebenen Wegen folgen. Plötzlich fühle ich mich als Eindringling, als jemand, der sich an etwas Verbotenem freut, weil er die für Touristen geschaffenen Regeln verletzt. Doch ich genieße es. Die, denen ich begegne, anscheinend auch, dass sich jemand hierher verirrt. Der Tourismus in Munduk spielt sich entlang der Landstraße ab, die durch den Ort führt, und wo die SUV problemlos parken und verkehren können. Dort, wo mondäne Restaurants und Hotels stehen, von deren Terrassen sie bequem, mit einem eisgekühlten Fruchtsaft oder Drink in der Hand, ohne Mühen über die Landschaft schauen können. Und zu den Wasserfällen auf Plattenwegen hinunter ins Tal spazieren gelangen.
Munduk liegt noch am Rand des Bali-Tourismus, zumindest sieht das in der Nebensaison so aus. Nun verstehe ich auch, warum ich in Ubud keinen Shuttle-Bus finden konnte, der mich hierherbringen wollte. Doch die Bautätigkeit, der ich begegnen, zeugt von Erwartung und spricht eine andere Sprache. Doch solange die Besucher mit ihren Fahrzeugen unterwegs sind, die Wasserfälle und Kaffeeplantagen leicht erreichbare Ziele bilden, werden sich nur wenige zu Fuß in die Berge aufmachen. Die wirklich sehenswerten, alltäglichen Kleinigkeiten, die mich faszinieren, entdecke ich in der Umgebung der Sehenswürdigkeiten ohnehin nicht.

Aus der Höhe ist sie offensichtlich, die andere Siedlungsweise Nordbalis. Die Gehöfte grenzen nicht quadratisch aneinander, nur getrennt durch ein Netzwerk schmaler, miteinander verbundener Gassen. Häuser und Gehöfte stehen vereinzelter, nicht in der sich wiederholenden, geometrischen Anordnung wie in Südbali. Viele Gehöfte umgibt zwar ein niedriger Zaun, doch über den kann man ungehindert ins Innere blicken. Keine Mauer aus Stein, mit einem schmalen, nur über eine Treppe zugänglichen Tor, hinter dem sich zusätzlich eine Aling-Aling, eine Geistermauer, befindet. Auch ist es im Norden nicht üblich, zwei grimmige Wächterfiguren auf beiden Seiten des Eingangs aufzustellen. Sind die Menschen im Norden mutiger oder nur leichtsinniger als im Süden? Drohen ihnen hier weniger Gefahren? Colin McPhee, der in den 1930ern lange in Südbali gelebt hat, zuerst in Kedaton (Sanur), dann in Sayan (Ubud), weiß Bescheid. Er schreibt, dass die Mauern, die ein balinesisches Gehöft einzäunen, seine Bewohner vor bösen Mächten, die ständig draußen lauern und danach trachten, ihnen Unheil zu bringen, sie wie ein auf den Boden gezeichnetes, magisches Rechteck schützen. Die verletzliche Stelle in der magischen Schranke ist der Eingang. Dort verstärkt man das Tor durch eine etwas zurückgesetzte Mauer, der die Sicht nach innen versperrt und den Angriff der Dämonen abwehrt. Es kommt mir so vor, als ob die zentrale Bergkette nicht nur eine geografische, sondern auch eine kulturelle Grenze bildet. Es ist im Norden nicht wirklich anders als im Süden. Hier ist immer noch Bali, aber ein irgendwie leicht abgewandeltes Bali. Vieles erinnert mich an des Osten Javas. Hat der fast hundertjährige Tourismus im Süden der Insel nicht auch eine kultur-konservierende Funktion? Tragen die Erwartungen der Besucher nicht auch dazu bei, dass sich bestimmte kulturelle Traditionen nicht verändern, weil sonst keine Touristen mehr nach Bali kommen? Und eine dritte Frage drängt sich mir auf: Hängt die Künstlichkeit des für westliche Besucher charakteristisch Balinesischen, die besonders in Ubud und Umgebung sehr auffällig ist, nicht gerade mit dieser Konservierung zusammen? Ist Südbali nicht zu einem Museum geworden, ein eingefrorener, kultureller Schnappschuss, ein erstarrter Augenblick des einst Gewesenen, das nun bis in alle Ewigkeit besichtigt werden kann? Gegen Bares natürlich, ein Instrument touristischen Managements? Nichts als unfrisierte Gedanken eines Wanderers?
Auf dem Hof einer Sekolah Dasar, einer anderen Grundschule am Weg, empfangen mich die Schüler in ihren modischen Uniformen mit lautem Hallo. Sie schicken die Mutigsten vor, testen ihre Englischkenntnisse und sind begeistert, als ich auf ihr Kauderwelsch antworte. Ein Lehrer sitzt nebenan rauchend auf der Mauer und amüsiert sich über unsere Albernheiten. Englisch in der Grundschule: Balis Zukunft schaut nach Westen!
Blick auf den Gunung Lesung

Mein Weg steigt stetig weiter bergan. Es wird steiler, und flache Abschnitte werden immer seltener. Entweder ist die Steigung moderat oder schweißtreibend steil, sodass ich mich vorwärts gebeugt nach oben schieben muss. Ich bin auch nur weiter gegangen, weil mir eine Frau gesagt hat, dass es bis zum Danau Tamblingan nur noch zwei Kilometer weit sind. Mir gefällt der Gedanke, heute wieder eine Entdeckung zu machen, wie schon vor zwei Tagen den Wasserfall, und finde die Aussicht verlockend, so schnell den See zu erreichen, von dem ich dachte, er sei viel weiter entfernt. Am Wegrand liegt ein vernachlässigter Tempel im Dornröschenschlaf, dessen Zeit für seinen Jahrestag, sein dreiwöchiges Galungan-Fest, oder eine kleinere Zeremonie, noch nicht gekommen ist: eine Pura aus schwarzem Lavagestein, seltsam mysteriös in ihrer Abgeschiedenheit. Ein Hauch von Dschungeltempel. Ich steige über die breite Treppe auf einen verwilderten Vorplatz hinauf, von wo aus das geschlossene Tor der Pura, deren Name auf keinem Schild zu lesen ist, erratisch in den Himmel ragt. Eine Indiana-Jones-Filmkulisse! Hinter mir, jenseits der Tempelmauer, fällt das Gelände in Wellen ins Tal hinab. Erst als ich die Pura wieder verlasse, sehe ich, dass auf dem Göttersitz neben der Treppe zum Vorplatz verschiedene Pflanzen wachsen. Lange schon, denke ich bei mir, hat niemand mehr Götter auf diesen Sitz zum Fest geladen.
Die Steigungen werden immer anstrengender. Auch die wenigen Scooter schnaufen laut, und quälen sich den Berg hinauf. Autos verkehren auf dieser Straße keine, erfreulich, da ich mich nicht auf den Verkehr konzentrieren muss. Für mich und die Scooter ist der Straße breit genug. Einer der Scooter-Fahrer hält an, fragt neugierig nach dem Woher und Wohin.Wir kommen ins Gespräch über so manches, und zuletzt will er mich mitnehmen. So wie er das sieht, sind es bis zum Tamblingan-See noch fünf Kilometer, und er erklärt mir genau, wie ich gehen muss. Dass die Straße nur noch steiler ansteigt, hält er, da motorisiert, nicht für erwähnenswert. Aber nun bin ich schon so weit gekommen, dass es keinen Sinn macht zurückzugehen. Letzten Endes sind es doch acht Kilometer bis zum See.

Die Menschen in den Bergen reagieren völlig anders auf mich, als in Ubud, wo man seit Jahrzehnten an Touristen gewöhnt ist. Sie sind freundlich reserviert, schüchtern, manchmal fast scheu, gelegentlich wirken sie unsicher, besonders die älteren Menschen. Manche nehmen erst gar keinen Blickkontakt auf, bleiben ablehnend, als hätten sie an solchen wie mir kein Interesse. Aber sie sind nie unhöflich, wenn sie mich sehen. Wenn ich sie anlächele und zuerst grüße, tauen fast alle auf, und erwidern beides. Bleiben wir dann stehen, und kommen ins Gespräch, ist die Spannung der Fremdheit schnell verflogen. Ihnen gefällt es, dass ich mich mit ihnen in Indonesisch unterhalten kann, Englisch ist für die meisten, die ich treffe, eine Fremdsprache. Auch meine Gastgeber, immerhin in der Tourismusbranche engagiert, sind dankbar, dass sie mit mir kein Englisch sprechen müssen. Aber niemand erwähnt das, es wirkt selbstverständlich, was mir wiederum gefällt. Der Kontakt zu den Menschen in Munduk hat nichts Anbiederndes wie in den Touristenzentrum Balis.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mich gefragt habe, wie oft ich gehofft habe, endlich oben anzukommen. Aber immer kommt hinter der nächsten Kurve nur eine neue Steigung. Doch die Aussicht hinunter ins Tal, wenn die Bäume und Sträucher am Straßenrand plötzlich den Blick freigegeben, wird zunehmend großartiger. Munduk, das ist nun gut zu sehen, liegt auf einem Grad in einem Talkessel, der rund herum von Bergen umgeben ist. Ich stehe am Hang eines dieser Berge, zu denen ich von meinem Balkon bei Edy’s aufschauen kann. Ich blicke noch hinunter ins Tal, als aus der Ferne leises Gamelanspiel zu mir herüberklingt. Aber es dauert noch eine Weile und mehrere Steigungen, bis ich das neu gebaute, moderne Haus erreiche, wo die Zeremonie stattfindet. Das Haus wird eingeweiht, zwei Göttersitze an der Grundstücksgrenze sind festlich geschmückt, und das Gamelan ist lauter geworden. Zu meiner Enttäuschung kommt es aus einem Lautsprecher, wie ich es in Pejeng bei einem Tempelfest schon einmal erlebt habe. Vor der geöffneten Hofeinfahrt, in der ein neuer SUV parkt, sitzen festlich gekleidete Frauen. Am Wegrand hat man ein Dutzend Motorroller abgestellt. Ich bleibe am Tor stehen, aber die Frauen antworten kaum auf mein Selamat Siang und beachten mich nicht weiter. Ich verstehe, ich bin unerwünscht.
Ich steige weiter bergauf, immer wieder vorbei an weit auseinander liegenden, einzelnen Wohnhäusern mit ein paar improvisierten Wirtschaftsgebäuden. Auch den Hang hinab, auf beiden Seiten der Straße, sehe ich immer wieder isolierte Siedlungsplätze im Bergwald liegen, wo anscheinend nur eine Familie lebt. Unmittelbare Nachbarschaft gibt es hier oben nicht mehr, dafür aber viele Hunde, die eifersüchtig ihren Teil der Straße verteidigen. Plötzlich sind sie wieder präsent, die aggressiven, unangenehmen Köter, die mich laut kläffend verbellen, die mich meterweit knurrend ankündigen, mich mit ihrer Schnauze nah an meiner Wade verfolgen und bis an ihre Reviergrenze begleiten. Wenn es ganz schlecht läuft, reichen sie mich dort an die nächste Meute weiter. Und überall die Warnungen vor Tollwut, die mir den Empfang durch die Hunde, trotz Impfung, unheimlich macht. Meistens sind sie alleine, stürzen aus einer Hofeinfahrt, wenn sie mich näher kommen hören, und bauen sich drohend vor mir auf. Je höher ich komme, desto häufiger treten sie als kleines Rudel von fünf, sechs Hunden auf, wodurch sie noch bedrohlicher wirken. Und das scheinen diese Biester genau wissen. Aber woher wissen sie aus der Entfernung so genau, dass ich kein Balinese, sondern hier fremd bin? Denn sie verbellen immer nur mich. Als ich dann endlich oben bin, und ich an der T-Kreuzung stehe, die mir der Mann auf dem Scooter beschrieben hat, brauche ich einen Moment, bis ich realisiere, dass es nun nicht mehr weiter bergauf geht.
Die breite, noch sehr neue Asphaltstraße führt zwar noch weiter nach oben, aber viel weniger steil. Es gibt keine langen Steigungen mehr, dafür aber ständig eng vorbeifahrende Lastwagen, die mit Bruchsteinen und Erde beladen sind. Die Straße ist zu schmal für uns beide, und ich springe jedes Mal, wenn ich einen LKW hinter mir höre, von der Straße, um ihn vorbeizulassen. Zum Dank hüllt er mich in eine stinkende Dieselwolke ein, die er hinter sich herzieht. Rechts und links der Straße liegen Gärten, die sich über die Hänge ziehen, in denen Gemüse und Blumen wachsen: Kohl, Mais, Bohnen und Hortensien. Für Nassreisfelder ist das Gelände zu schwierig und anscheinend auch zu kalt.

Nach weniger als einem Kilometer erreiche ich die Abzweigung nach Tamblingan. Die Straße fällt zum See hin ab, dessen Blau ich zehn Minuten später durch das Grün der Bäume leuchten sehe. Auf Kopfsteinpflaster wandere ich den Weg hinab zum See, während nebenan im Wald eine Motorsäge kreischt und ein Baum krachend sein Leben aushaucht. Zwischen den Wurzeln eines alten Waringinbaums, im Schatten der herabhängenden Wurzeln, steht auf einem unter Tüchern verborgenem Stein ein Schrein, an beiden Seiten ein Schirm, der linke weiß, der rechte gelb, die rituellen Farben des Heiligen. Auf dem Sitz ein bärtiger Mann, aus schwarzem, poliertem Stein geschnitten, dessen mächtiger Haarknoten sich hoch auf seinem Hinterkopf auftürmt. Um seine Taille hat man ihm ein gelbes Tuch geschlungen, dessen oberer Rand mit einem weißen Bordüre verziert ist. Seine vor der Brust verschränkten Händen umfassen ein zylindrisches Gefäß, in dem zwei abgebrannte Räucherstäbchen stecken. An jedem Handgelenk trägt er eine Kette aus großen, goldenen Perlen. Wer ist diese seltsame Persönlichkeit, dessen Abbild ich noch nirgendwo sonst gesehen habe, vor dessen Sitz sich Opfergaben häufen? Stellt er Shiva dar? Ist er überhaupt ein Gott oder thront hier ein verehrter Priester oder Asket? Ist er der Geist des Baums, der einen gefährlichen Übergang bewacht? Gibt es eine Erzählung über ihn, über ein Ereignis, dass sich mit ihm einst an diesem Baum zugetragen hat? Es ist niemand in der Nähe, den ich fragen kann, nur Motorroller und SUV, die eilig an mir vorbeirollen. Wieder einmal bin ich der einzige Fußgänger weit und breit.

Die Anstrengung hat sich gelohnt. Der Tamblingan-See, unterhalb des Gunung Lesung, ist für sich genommen nicht so spektakulär, wie ich ihn mir vorgestellt habe, aber unmittelbar an seinem Ufer steht ein Wassertempel, wie fast alle Tempel in Nordbali, aus schwarzem Stein erbaut. Er ist vom gleichen Typus wie der in Bedugul. Im Innern stehen drei unterschiedlich hohe Meru, auch ein Meru Pelinggih mit elf Dächern für Dewi Sri. Der Pura Gubug am Danau Tamblingan fehlt das farbige Design und die kitschigen Accessoires, die die touristisch geschönte Pura Ulun Danu verunreinigen. Die Pura Gubug wirkt in ihrer düsteren Bescheidenheit strenger, ernsthafter und ehrfürchtiger, mehr ein Ort der Verehrung und Einkehr, als der Schaulust und des Vergnügens.
Doch heute Nachmittag ist sie geschmückt. Es sind einige, sparsam gesetzte Akzente, die darauf hinweisen, dass nicht Alltag ist, denn am Ufer des Sees findet die Zeremonie einer Subak statt. Die beiden Wächterfiguren vor dem gespaltenen Tor hat man in gelbe und weiße Tücher gekleidet, und obwohl keine Sonne scheint, beschirmen sie weiß-gelbe Schirme. Auf den Treppenstufen und vor dem Eingang liegen zahlreiche kleine Schalen mit Opfergaben, die die Hunde bereits nach Fressbarem durchwühlen. Auch am Danau Tamblingan gibt den kleinen, abseits liegenden Schrein, an dem gerade, als ich eintreffe, geopfert wird. Ungestört durch die lauten „Eins! Zwei! Drei!“ Rufe eines Fotografen, der am Seeufer Modeaufnahmen macht, der angelnden Männer mit ihren Söhnen, dem Bakso-Stand am Eingang in den Tempel, der hier sein Essen verkauft, der vielen herumstreunenden Hunde sowie die ständig an- und abfahrenden Fahrzeuge, sind die Gläubigen in ihr Ritual vertieft. Sie kommen nicht gemeinsam in einer Prozession zum Tempel, sondern einzeln, mit dem Scooter oder, wie einer der Priester, der sich mit einem SUV zum Tempel fahren lässt. Und es gibt kein Gamelanorchester, das zur Unterhaltung der Götter und Menschen spielt. Bisher dachte ich, dass ein Ritual im Tempel ohne Gamelan nicht vollständig ist.
Vor der Pura steht ein fliegender Händler, der Bakso Ayam anbietet. Ich bekomme ein unerwartetes Mittagessen, nach dem langen Weg inzwischen überfällig. Verschiedene Arten Bakso gibt es überall in Indonesien. Es wird am Straßenrand in einer fahrbaren Schnellküche zubereitet, und gleich daneben aus einer kleinen Schüssel verzehrt. Die Zutaten für die Suppe liegen in einer Vitrine ausgestellt, die Suppe mit den Nudeln köchelt in einem Topf, der neben der Vitrine befestigt ist. Topf und Vitrinenschrank sind entweder auf einem Handwagen oder auf einem Motorroller montiert, mit denen die Händler auf dem Markt stehen oder regelmäßig bestimmte Strecken passieren. Ich setze mich mit meiner Schüssel Bakso auf den Rest einer Mauer, denn eine Bank, wie oft vorhanden, gibt es an diesem Stand nicht.
Der Bakso-Mann stammt aus Malang, einer großen Stadt in Ostjava, wo ich 1982 war, um den Vulkan Bromo zu besteigen. Wir haben uns manches zu erzählen, bei diesem kurzweiligen Mittagessen am See. Er fährt nun schon seit vier Jahren mit seinem Bakso-Stand kreuz und quer durch Nordbali, erzählt er mir, da wo gerade etwas los ist, wie heute Mittag am Danau Tamblingan. Er wohnt mit seiner Familie in Denpasar. Täglich fährt er die Strecke von Denpasar nach Singaraja, um Bakso zu verkaufen. Für die fünfzig Kilometer bis Munduk braucht er mit seinem Motorroller eine Stunde. Sein Bakso Ayam, eine Suppe mit Reisnudeln, Reisklößchen, einem Ei, Krupuk und einem kleinen Stückchen Huhn ist schmackhaft und fast geschenkt, was er nicht lassen kann, lächelnd zu betonen. Aber wir verstehen uns gut, und haben eine nette Unterhaltung am Ufer des Sees, verbindet uns doch seine Heimat. Ich sitze währenddessen und löffele meine Suppe, während die Hunde mich plötzlich mögen, und einen halben Meter bettelnd vor mir stehen.
Ich bin davon ausgegangen, oben auf dem Steilhang anzukommen, an dem ich am Montag mit Made auf der Fahrt nach Munduk entlanggefahren bin. Nun stehe ich auf dem feuchtem Boden am Ufer des Sees, am Ende einer Sackgasse, die an der Pura Gubug im feuchten Seeufer verschwindet. Während ich noch der Zeremonie zu schaue, höre ich den ersten Donner. Der Himmel ist unter einer dicken Wolkendecke verschwunden. Es ist dunkel geworden, und das Licht reicht nicht mehr aus, um zu fotografieren. Ich kann mich nicht entscheiden, soll ich bleiben oder aufbrechen. Aber ich setzte darauf, es noch vor dem Regen zurück nach Munduk zu schaffen. Mir ist nicht wirklich bewusst, wo ich bin, und wie weit der Weg zurück ist, aber das bemerke ich erst später. Besser wird das Wetter heute nicht mehr werden.

Ich habe gerade die erste Steigung nach Munduk geschafft, als es beginnt, erst schüchtern zu regnen, dann zu schütten. Ein Konvoi Scooter, mit festlich gekleideten Männern und Frauen, die zu einer Zeremonie unterwegs sind, und die mich schon seit einer Weile überholen, geraten wie ich in den heftigen Regen. Nun müssen sie durchnässt an der Zeremonie teilnehmen. Ich finde neben einem Tor, unter einem kleinen Baum Schutz. Trotzdem wäre ich auch dort bis auf die Haut nass geworden, denn so dicht sind die Blätter über mir nicht. Plötzlich kommt ein älterer Mann mit seinem hoch mit Grünzeug beladenen Scooter auf mich zugefahren. Er kann auf der nassen Straße zwar gerade noch bremsen, rutscht aber mitsamt seiner Ladung in mich hinein, denn ich habe mich in der Einfahrt zu seinem Haus untergestellt. Ich helfe dem Mann seinen umgestürzten Scooter aufzuheben, und die Heubündel ins Haus zu tragen. Zum Dank nimmt er mich mit herein. Und das ist meine Rettung, denn inzwischen hat der Himmel alle seine Schleusen geöffnet. Zwei Stunden sitze ich mit der Familie in ihrem Fernsehzimmer im Trockenen. Es gibt heißen Tee und ein mühsames Gespräch, von dem das meiste vom Trommeln des Regens auf das Wellblechdach geschluckt wird. Nach und nach kommen kleine Kinder aus dem Haus. Verschüchtert hocken sie nun in einer Ecke des Raums, staunen mit großen Augen. Wieder einmal fühle ich mich wie eine Sehenswürdigkeit, die angestarrt werden darf, was mich peinlich berührt. Vor der offenen Seite des Pavillions hängt inzwischen ein nasser Vorhang herab, denn die Traufe ist übergelaufen. Im Hof steht das Wasser knöcheltief, sodass auch die Hühner mittlerweile zu uns geflüchtet sind. Gackernd schauen sie in alle Ecken, ob nicht doch irgendwo etwas Fressbares liegen geblieben ist. Wie weit es zurück nach Munduk ist, habe ich verstanden. Fünf weitere Kilometer, sagt mir die Frau des Hauses, die meine unerwartete Anwesenheit zuerst irritiert, und die dann doch auftaucht.
Doch auch diese Angabe ist falsch, wie schnell begreife, als ich wieder auf der vor Nässe glänzenden Straße unterwegs bin. Während es auf dem Hinweg immer steiler hinaufging, wird die Straße nun äußerst abschüssig. Ich kann kaum mehr gehen, sondern stolpere im Laufschritt vorwärts. Wieder habe ich Glück. Am Straßenrand wartet ein Mann mit seinem Scooter auf mich, der mich die letzten sieben Kilometer mit nach Munduk nimmt. Meine Knie werden ihm das nie vergessen.

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