Mittwoch, 18. Januar 2017

Lovina Revisited


Ich kehre zurück nach Lovina. Nach Nordbali. An die Küste des Laut Bali, der Bali See. Ich erinnere mich daran, bereits einmal hier gewesen zu sein. Aber ich erkenne nichts mehr wieder. Der Ort heißt Kalibukbuk, ein touristisches Zentrum besonderer Art. Verglichen mit dem elaborierten Ubud kommen mir die Gassen und Häuser, die von der breiten, stark frequentierten Durchfahrtsstraße meerwärts abzweigen, natürlicher vor, bescheidener, eben indonesischer. So war Ubud einst auch. Ich besitze Fotografien und kann es daher beurteilen. Aber der Norden ist auch nicht Südbali, denke ich. Das Bali der Nordküste besitzt nicht den bezaubernden Charme, nicht die inspirierende Lebendigkeit und die Fantasien weckende Atmosphäre. Mein erster Kontakt mit dem Süden Balis erschien mir damals völlig irreal. Das intensive Grün der Landschaft, die Farbigkeit der Menschen, die Feuchtigkeit, die fühlbar auf der Haut lag, und die Hitze, die sie trocknete. Ohne es zu bemerken, war in einem Augenblick den Tropen verfallen. Ich fühlte mich in eine Landschaft versetzt, die ich in einem exotischen Film vermute hätte, nicht in der Wirklichkeit. Doch ich war von der Leinwand herabgestiegen und befand mich mitten in einem Traum. Meine zweite Erkenntnis bestand in einer äußerst sensorischen Erfahrung: visuell und gustatorisch. Bali ist bunt, scharf und süß.

1979. Mein erster Besuch in Bali. Ich war naiv. Ein Bali-Tourist, ohne mir dessen bewusst zu sein. Meine Leidenschaft für Indonesien war noch neu. Ich hatte sie gerade erst entdeckt, eben erst begonnen, Malaiologie zu studieren. Sprachlich war ich alles andere als sicher.
Ich erinnere mich nicht mehr wirklich an Lovina. Ich habe verschwommene Bilder von einem feinen, schwarzen vulkanischen Sand, einem schmalen und leeren Strand. Ich erinnere mich an die einfache Bambushütte in der ich wohnte, in einem Garten, unmittelbar in Strandnähe, und daran, dass ich bestohlen wurde, als ich schwimmen war. Das einzige Mal auf meinen vielen Reisen. Ob ich damals auch in Kalibukbuk war? Ich weiß es nicht mehr.
Nach Lovina kamen die ersten Backpacker bereits Anfang der 1970er Jahre, denen es im Süden zu laut und zu voll, zu touristisch geworden war, und die Ruhe und Entspannung suchten, in der Hoffnung auf ein authentisches Bali. Was die Ruhe betrifft, hat sich nicht sehr viel geändert, zumindest jetzt, in der Regenzeit nicht, auch wenn ich nicht mehr in einer Bambushütte am Strand wohne, sondern in einem modernen Hotel mit Dusche, Pool und Deckenventilator. Und die Backpacker? Die sind schon vor langer Zeit weiter gezogen, während die Fischer mit ihren Auslegerbooten vor Anturan immer noch auf die Bali See hinaus fahren. Und die zentrale Bergkette den Norden immer noch vom Süden trennt , sodass die Fahrt von Ubud nach Lovina langwierig und aufwändig wird. Doch Lovina ein wenig von seinem abgelegenen, verschlafenen Charme bewahren können.


1979 wusste ich nicht, dass Lovina kein Dorf ist, sondern ein acht Kilometer langer Strand zwischen Singaraja im Osten und Seririt im Westen. Die ehemaligen Dörfer, die inzwischen Lovina bilden, Tukad Mungga, Anturan, Banyualit, Kalibukbuk, Kaliasem und Temukus, sind heute zusammengewachsen. Der Name Lovina geht angeblich auf den letzten Raja von Buleleng zurück, der sich in der touristischen Entwicklung der Region engagierte. Nicht von ungefähr, aber das ist meine Assoziation, schwingt im Namen Lovina auch der damalige Lifestyle-Begriff Love als Peace mit.
Von der stark befahrenen Landstraße, die entlang der Küste immer weiter nach Westen verläuft, zweigen kleine Nebenstraßen und Gassen zum Meer ab. Hotels jeder Preisklasse, Restaurants jeglicher Couleur und jeden Geschmacks sowie kleine Läden für den touristischen Bedarf säumen die Straßen. Nur taugliche Fahrräder, mit denen ich in die Berge oder ins zehn Kilometer entfernte Singaraja fahren kann, gibt es keine. Die Räder, die in den zwei Shops angeboten werden, sind so stark reperaturbedürftig, dass ich mit ihnen nur die Umgebung erkundet habe, die 500 Meter zum Strand und zurück gefahren bin. Einige Versuche, in die Berge zu fahren, endeten im bergauf schieben. Ersatzteile, heißt es, seien so teuer, dass niemand in eine Reparatur investieren will. Eine recht eigenartige Haltung für einen Geschäftsmann, seine Produktionsmittel verkommen zu lassen, und sein Unternehmen so allmählich zu ruinieren, Die Nachfrage, das ist mir schon aufgefallen, ist hier größer als in Ubud. Aber Touristen auf dem Fahrrad, so empfinden es die Jugendlichen, wirken lächerlich. Kinder fahren Rad, Erwachsene lenken ihren Scooter oder ihr Motorrad durch den dichten Verkehr. So präsentiert sich mir heute der Ferienort Lovina.


In einer Nebenstraße, schon auf die Berge zu, fahre ich an einem besonderen Tempel vorbei, wie ich bisher noch keinen gesehen habe. Zwar gibt es auch auf dem Gelände der Goa Gajah einen buddhistischen Tempel, aber der in Kalibukbuk ist von anderer Art. An seiner Front prangt ein Schild mit der Aufschrift Cagar Budaya, ein kulturelles Denkmal, eine Ausnahmeerscheinung in der modernen balinesischen Gesellschaft. Cagar bezeichnet ein Reservat, ein Gebiet, das am Rand einer Gesellschaft besteht, und eines besonderen Schutzes bedarf, vergleichbar mit einem Naturschutzgebiet (cagar alam).
Der buddhistische Tempel heißt Candi Buddha, ist aber keine Pura im balinesischen Sinn, obwohl ein Candi ebenfalls ein Tempel ist. Die Bezeichnung Candi hat sich allerdings im Namen des gespaltenen Tors (Candi Bentar) hinduistischer Tempel in Bali erhalten. Dieser Tempel wurde 1994 bei Ausgrabungen zwei Meter unter der Erdoberfläche entdeckt. Bis 2009 wurde das Bauwerk in den heutigen Status eines Denkmals (cagar) restauriert. Für ihre Rekonstruktion orientierten sich die Archäologen an kleinen Stupa-Repliken, Stupika, aus dem 9. Jahrhundert, die in der Gegend zahlreich gefunden wurden, und die den Aufbau der damaligen Tempel zeigen. Spuren eines ehemaligen Buddhismus findet man in der Umgebung von Kalibukbuk immer wieder. In der Nähe von Banjar, nur wenige Kilometer von Kalibukbuk entfernt, liegt ein buddhistisches Kloster, ein sogenannter Vihara Budha, mit klassischen Elementen buddhistischer Tempelarchitektur.
Es erstaunt nicht, dass auch dieser Tempel am Ortsrand von Kalibukbuk bergwärts (kaya) errichtet wurde, den Göttern zugewandt. Diese Lage verleiht ihm einen besonderen Status unter buddhistischen Tempeln. Im hinduistischen Bali sind die Berge als Göttersitze bis heute heilig. Kaya, bergwärts, und kelod, bergfern, was bedeutet meerwärts, dem Göttlichen fern und Dämonischen zugewandt, sind die wichtigsten Himmelsrichtungen für die Anlage von Tempeln. Den bergwärts liegenden Tempel kommt dabei eine bevorzugte Position zu. Der Unterwelttempel, die Pura Dalem, liegt immer in der kelod-Position, während der Nabel- oder Gründertempel, die Pura Puseh, nach kaya orientiert ist. Für die Balinesen war es einst entscheidend, genau zu wissen, in welcher Richtung kaya liegt, da sie sonst ihre Orientierung verloren und unsicher über ihre räumliche Position im Kosmos wurden.
Der kleine buddhistische Tempel weist noch eine weitere Besonderheit auf. Durch das gespaltene Tor, das Candi Bentar in einer hinduistischen Pura, betrete ich den kleinen Innenhof mit der Stupa, die des Buddhas umgestülpte Reisschüssel symbolisiert. Vor dem Tor, auf der linken Seite des Eingangs, steht einer der für Bali charakteristischen Göttersitze, mit Schirm und schwarz-weißkariertem Tuch umhüllt. Ein wenig abseits, auf der rechten Seite des Wegs in den Tempel, sitzt einsam ein steinerner Buddha im Schatten eines Baums. In seinen Händen, und auch das ist Bali, liegen mehrere Banten. Architektonisch ist der Tempel eine synkretistische Konstruktion. Es würde mich interessieren, ob das auch auf die Riten und Zeremonien zutrifft, die hier anscheinend stattfinden, obwohl der Tempel ein archäologisches Denkmal ist. Und auch wer, und warum, jemand Opferkörbchen deponiert.


Nordbali ist wirklich anders als ich den Süden der Insel, Ubud und Umgebung, erlebt habe. Auf meiner letzten Wanderung in Munduk traf ich einen Soziologen, der früher für die Regierung gearbeitet hat. Inzwischen ist er pensioniert, und besitzt ein kleines Café, in einer Gasse, die von der Hauptstraße abzweigt. Eine familiäre, fast private Atmosphäre. Seine Frau bietet Kochkurse an, balinesische Küche für Touristen, eine Aktivität, die jetzt überall beworben wird.
Den Unterschied zwischen Nord- und Südbali erläutert mir ihr Mann: „Der Norden Balis ist moderner, die kulturellen und wirtschaftlichen Einflüsse aus Java stärker wirksam. „Historisch“, fährt er fort, „wurde der Süden bis in das 20. Jahrhundert hinein von der höfischen Kultur der lokalen Fürsten von Badung, Tabanan und Klungkung geprägt. Der Fürst von Buleleng kooperierte damals bereits seit Jahrzehnten mit der niederländischen Kolonialmacht, während diese großen und einflussreichen, südbalinesischen Fürstenhöfe bis 1908 gegen die Versuche der Niederländer, sie ihrer Macht zu unterwerfen, erbittert Widerstand geleistet haben.“ In ihrem ergreifenden Roman Liebe und Tod auf Bali schildert Vicki Baum diesen Konflikt recht melodramatisch, doch historisch und kulturell, soweit die Fiktion es zulässt, zuverlässig. Sie erzählt von den letzten Tagen der Regierungszeit der südbalinesischen Fürsten, der Agung Dewas, und ihrem kollektiven, spirituell motivierten rituellen Suizid, den beiden puputan von 1906 und 1908, dem Ende der Fürstenhöfe von Badung, Klungkung und Tabanan. Colin McPhee und Jane Belo gehören wahrscheinlich zu den Letzten, die die sterbende, höfische Kultur Südbalis noch erkennen konnten. In seiner autobiographischen Reiseerzählung, Ein Haus in Bali, 
schwärmt McPhee, dass das, was Südbali kulturell einmal war, kurz wieder lebendig wurde.


Abend über dem Bali Laut
Ich bin wieder in Lovina. Ein neuer Besuch. Dreißig Jahre später. Re-Visited and Re-Thinking! Gerade richtig für einige beschauliche Tage am Pool. Der Strand und das Meer sind leer, und der Wind fegt den Regen über die Terrasse. Bali ist weder grün noch farbig. Der Regen fällt in Bindfäden vom Himmel, der sich in monotones Grau gehüllt hat. Durch die Gasse strömt das Wasser abwärts. Kein Badegast verliert sich in der Weite der Bucht von Lovina.
Der Himmel bleibt nicht lange dunkelgrau. Frisch gewaschen taucht der Ort aus dem regen auf, der ihn gerade noch verbarg. Ein von grauweißen Pinselstrichen aufgelockertes Blau über mir nimmt zu. Am Horizont verlieren sich Wolken in einem zartblauen Schleier. Über den Bergen mühen sich dicke weiße Kumuluswolken weiter ab, den nächsten Regen anzukündigen. Es gibt nicht viel zu tun für mich in Lovina. Viel Neues gibt es auch nicht. Tage der Ruhe und des Müßiggangs in der warmen und schwülen Atmosphäre tropischer Natur. Vielleicht verharren die Wolken bis heute Nacht über den Bergen, sodass ich an der monumentalen Delfinstatue am Strand von Kalibukbuk, ein eisgekühltes Bier in der Hand, die Sonne ins Meer sinken sehen kann. Dass zumindest empfiehlt mir mein Reiseführer als eine der Attraktionen in Lovina.

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